- Bürgermeister Claus Jacobi beim Neujahrsempfang Foto: Linde Arndt
Bürgermeister Claus Jacobi beim Neujahrsempfang Foto: Linde Arndt
[jpg] Bürgermeister Claus Jacobi war sichtlich betroffen beim diesjährigen Neujahrsempfang am 18.1.2015. Jacobi erinnerte an die grausamen Morde in Paris vom 7. Januar 2015, die 17 Menschen das Leben kostete. Aber nicht nur an Paris erinnerte sich Jacobi, schon 2014 zogen für ihn die dunklen Wolken des Terrors auf und breitete sich über unser aller Leben aus. Angst schlich sich aufgrund dieser Taten in unser Gemüt. Nur Angst ist ein schlechter Ratgeber, so Claus Jacobi.
Und weiter, erinnerte Claus Jacobi an die 50 Millionen Flüchtlinge, die es weltweit gibt und unter schlimmen Verhältnissen im Ungewissen leben müssen. Menschen die notdürftig unter für uns unvorstellbaren und menschenunwürdigen Bedingungen ohne Perspektiven leben. Es sind Menschen die an unsere europäischen und damit auch an Gevelsberger Türen klopfen, führte Bürgermeister Claus Jacobi aus. Nachfolgend stellte Bürgermeister Claus Jacobi sein lokales und offensives Flüchtlingskonzept vor, welches nicht erst auf Probleme wartet, sondern von Anfang an die Flüchtlinge an die Hand nimmt um den Integrationsprozess zu beschleunigen.
Damit lenkte Bürgermeister Claus Jacobi sein und unser aller Augenmerk auf die Flüchtlingsproblematik, nachdem er im vorigen Jahr die Kinder in den Fokus gerückt hatte. Heinz Hilgers, Präsident des deutschen Kinderschutzbundes, war im vorigen Jahr als Gast nach Gevelsberg geladen worden. Passend zu dem diesjährigen Flüchtlingsthema, lud Bürgermeister Claus Jacobi den Gründer des Cap Anamur / Deutsche Not-Ärzte e.V. und Vorsitzender des Friedenskorps Grünhelme e.V. Dr.h.c. Rupert Neudeck ins Zentrum für Kirche und Kultur zum Neujahrsempfang 2015. Rupert Neudeck hielt einen beeindruckenden Vortrag.
Für Bürgermeister Claus Jacobi ist es ein weiterer Schritt, hin zu einem sozialen Gevelsberg, welches Menschen in seiner Stadt nicht alleine lässt.
v.re. Dr.h.c. Rupert Neudeck , Jürgen Gerhardt [En-Mosaik] und Andre Sicks [City-Anzeiger] Foto: Linde Arndt
In diesem Zusammenhang hatten die Redakteure Jürgen Gerhardt von EN-Mosaik, sowie André Sicks vom Cityanzeigers und die Pressefotografin Linde Arndt die Gelegenheit ein Pressegespräch mit Dr.h.c. Rupert Neudeck nach der Veranstaltung zu führen.
Jürgen Gerhardt: Ich habe sie seit ihrer damaligen Aktion, als sie tausende Vietnamesen mit der Cap Anamur gerettet haben, immer wieder aus der Ferne begleitet. Schon damals war es keine Selbstverständlichkeit die geretteten Flüchtlinge unterzubringen. Sie wurden damals massiv von vielen Politikern kritisiert.
Ich hatte allerdings ein Problem, als sie ihren Nachfolger auf der Cap Anamur Elias Bierdel, der vor 10 Jahren auf Sizilien mit 37 Afrikaner an Land ging, später kritisierten. Alle auf der Cap Anamur wurden damals verhaftet und das Schiff wurde beschlagnahmt. Später wurde Bierdel mit seiner Besatzung wegen Menschenhandel vor Gericht gestellt. Heute haben wir wieder dieses Problem. Heute droht die italienische Regierung den Fischern, die in Seenot geratene Afrikaner aufnehmen und an Land bringen, wieder mit einer Anklage wegen Menschenhandel.
Wie würden sie sich heute verhalten?
Rupert Neudeck: Ich wurde damals über die Situation mit Elias Bierdel informiert. Habe aber sofort gesagt, er solle doch mit den Afrikanern nach Lübeck oder Hamburg gehen. In Deutschland könnten alle an Land gehen und würden sicherer unterkommen. Bierdel wollte jedoch unbedingt in Sizilien an Land gehen (Die Afrikaner drohten mit einem kollektiven Suizid). Das hatte zu Folge, dass er ins Gefängnis musste und das Schiff konfisziert wurde.
Man muss eben immer sehen wie man sich mit welchen Mitteln im Einzelfall verhält; denn das Seerecht ist da nicht so flexibel.
Jetzt haben wir ja eine ganz andere Situation, indem die italienische Marine 140.000 Menschen ( Mit der Marineoperation „Mare Nostrum“ d.Red.) gerettet hat. Ich hatte die Hoffnung die EU würde diese Operation weiterführen, indem die einzelnen EU Mitglieder solidarisch ihre Marine in jährlichen Wechsel einsetzen würde. Die EU handelte jedoch nach auslaufen der Marineoperation „Mare Nostrum“ anders. Heute nimmt die EU-Agentur Frontex mit der Operation Trident innerhalb einer 30 Kilometer Zone die Flüchtlinge auf. Im Grunde betreibt die EU eine Abschottungspolitik, ich vermisse eine Flüchtlingspolitik die den menschlichen Problemen gerecht wird.
Wir haben ja noch nicht einmal die Phantasie uns vorzustellen, was diese Menschen alles in Kauf nehmen. Ein Beispiel: Zwei junge Männer haben sich in Conakry der Hauptstadt Guineas in den Frachtraum eines Flugzeuges versteckt. Als die Maschine ihr Ziel, Brüssel, erreichte waren sie erfroren.
Wir haben in Afrika eine Masse von geschätzt 18 Millionen Menschen die auf dem Wege zu uns sind. Davon werden 4 Millionen in die Republik Südafrika einwandern, weil dieses Land einen gewissen Wohlstand besitzt. Die derzeitigen Probleme in Syrien und dem Irak scheinen bei dieser Betrachtung ein kleines Problem zu sein. Europa muss sich mit einer neuen Politik befassen die mehr Flüchtlinge aufnimmt, in 10 Jahren werden die Flüchtlinge unorganisiert die Grenzen der EU überschreiten. Diese Situation werden wir Europäer nur damit entschärfen können, indem wir eine große Initiative einer Berufsausbildung anstreben.
Jürgen Gerhardt: Aber sie greifen doch schon früher in den Bildungsprozess ein.
Rupert Neudeck: 50 bis 60 % sind der Afrikaner sind im Alter bis 25 Jahre. Sie sind alle infiziert von der digitalen Revolution. Und sind über die Möglichkeiten in Europa und anderswo bestens informiert. 39 % dieser jungen Afrikaner haben 1 bis 2 Handys oder Smartphones. Wir können ihnen zwar sagen, geht doch bitte zurück in eure Länder und helft beim Aufbau, nur das ist mehr eine akademische Aussage ohne Konsequenz. Da ist noch das Problem, dass viele Afrikaner von ihrer Dorfgemeinschaft einen Kredit bekommen haben, er kann gar nicht mehr zurück in sein Dorf und einfach sagen, so funktioniert das nicht. Er kann von seiner Dorfgemeinschaft getötet werden, weil er nicht nur das gesammelte Geld der Dorfgemeinschaft ausgegeben hat, sondern die auf ihn gelegten Erwartungen nicht erfüllt hat.
Jürgen Gerhardt: Wo kann ich als Europäer politisch in Afrika eingreifen?
Rupert Neudeck: Die kleinen Lösungen sind nicht mehr zielführend. Europa müsste jetzt in Afrika und Europa eine Offensive der Bildung und Ausbildung anschieben. Ich arbeite im Moment an einem Projekt welches 200 junge Leute aus Ghana hier in Europa eine Berufsausbildung bekommen. Es gibt leerstehende Kolpinginternate die man für diese Zwecke einsetzen kann. Die jungen Leute werden hier ausgebildet und bekommen genauso einen Lohn wie Einheimischen Auszubildende. Das Geld wird dann auf ein Sperrkonto eingezahlt und später bei der Rückkehr in ihr Land wieder ausgezahlt. Das machen wir mit einem Bundesland wie NRW, das eine Partnerschaft mit Ghana hat. Oder Rheinland-Pfalz hat eine Partnerschaft mit Ruanda. So erleichtern wir die Einreise, die ja mit einer Visavergabe erreicht wird. Aber nicht nur in Deutschland werden wir die Ausbildung forcieren, auch in Afrika sind wir präsent. So haben wir in Mauretanien, an einer Küstenstadt mit 70.000 Einwohner plus 70.000 Migranten, die Möglichkeit geschaffen berufliche Ausbildung zu betreiben. Tun wir nichts, werden diese 70.000 bei nächster Gelegenheit versuchen die kanarischen Inseln zu erreichen.Deshalb, hier in Deutschland als auch in Afrika werden gute Berufe nach deutschem System ausgebildet, die in den Herkunftsländern auch dringend gebraucht werden. Nach zwei Jahren Ausbildung werden die Afrikaner mit einem Zertifikat in ihr Land entlassen um dort in einer Selbstständigkeit oder angestellt eine Perspektive zu haben. Es ist im Moment die einzige Möglichkeit, die ich sehe.
Interessant ist noch, und das muss man mal erzählen. In Mauretanien nennt man unseren Kontinent nicht Europa, sondern Schengen. Die jungen Leute sind bestens informiert, sie betreten die Schiffe, meist Pirogen, schmeißen ihre Pässe weg und versuchen über die Inseln nach Spanien zu gelangen. Sind sie einmal in Spanien können sie sich in den Ländern der EU gemäß dem Schengenabkommen frei bewegen.
Da die europäische Entwicklungspolitik die Flüchtlingsproblematik nicht verhindern konnte, sollten wir es mit einer weiterreichenden Ausbildungsoffensive den afrikanischen Ländern Perspektiven eröffnen. Dabei sollten die 28 Staaten der EU sich jeweils zwei afrikanische Staaten besonders annehmen um diese Ausbildungsoffensive umzusetzen. Diese Beziehungen könnten bei guten Kooperationen zu einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen den einzelnen Staaten führen. Wer weiß vielleicht entsteht so was wie eine neue Analogie zur deutsch-französischen Freundschaft. Das was bis jetzt passiert ist, ist alles umsonst gewesen.
Wir Europäer müssen die Flüchtlingsprobleme im Mittelmeer alleine lösen, wenn möglich mit durch rollierende EU Länder, die ihre Marine einsetzt. Sicher ist das auch für die europäischen Marinesoldaten eine positive Lebenserfahrung die prägende sein wird.
Jürgen Gerhardt: Vielen Dank für das Gespräch
Leider hatte Rupert Neudeck nur begrenzt Zeit gehabt. Draußen vor der Tür stand die ganze Zeit der PKW, der Rupert Neudeck zum nächsten Ort bringen musste.
Es ist schade, wenn man solch einen wunderbaren Menschen der als herausragender Zeitzeuge im Bereich der Flüchtlingsproblematik angesehen ist, „nur“ eine begrenzte Zeit für solche ein Gespräch zur Verfügung hat. Rupert Neudeck ist inzwischen eine moralischen Instanz, die man immer wieder um Ratschläge bittet.
Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Gevelsberg
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[…] hatte die Ehre Rupert Neudeck in Gevelsberg zu interviewen. Seine für uns hohe humanistische Haltung wird in dieser Welt fehlen, wieder ist unser Land mit dem […]
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