Wir sollten mal über……

 [jpg]..die (13)documenta reden. Als die Pressekonferenz vom 6.Juni 2012 ablief, stand eine Künstlerin vor dem Mikrofon und knabberte ungeniert an ihren Fingernägeln. „Nail-Biting-Performance“ wurde als neue Kunst vorgestellt. Stirnerunzeln, Getuschel und Unverständnis war angesagt, es war ein denkbar schlechter Einstieg in die (13)documenta.

In Folge versuchte Carolyn Christov-Bakargiev (CCB), die künstlerische Leiterin, die gesamte Presse in Grund und Boden zu reden. Alle fühlten sich dominiert und zwar so, dass sich bei einigen von uns gewisse Blockaden einstellten.
Viele Fragen blieb sie uns schuldig, die wir aber auch nicht gestellt hatten, wobei, die Antworten der nicht gestellten  Fragen hätten wir schon erwartet. So definierte CCB Kunst neu, indem sie sie (Die Kunst) zur Nicht Kunst erklärte, indem sie das was nicht Kunst war und ist zu Kunst erklärte. Überhaupt sprach sie viel in Gleichungen, die aber nicht aufgehen mussten.Wir hätten besser zuhören sollen, auf das Ungesagte der   künstlerischen Leiterin CCB. Wenn man uns doch ein bisschen mehr Zeit gegeben hätte. Wir haben unseren Artikel abgeliefert und der Verleger war es zufrieden.

Nun fügte sich etwas für mich, indem ich eine Einladung der Sparkasse Ennepetal-Breckerfeld bekam die (13)documenta in Kassel am 6. September gemeinsam zu besuchen, also 3 Monate nach dieser Pressekonferenz. Zeit genug die damalig eingenommenen Positionen einer Überprüfung zu unterziehen.
Um es kurz zu machen, wir haben auch, wie viele Kollegen, mit der Einschätzung,  die künstlerische Leiterin CCB würde es nicht bringen, einigermaßen daneben gelegen. Sie hat einen guten documenta Job gemacht in der Tradition einer weltweit anerkannten avantgardistischen Kunstausstellung.

 

 

 

 

 

 Der Mut rund 300 relativ unbekannte Künstler einzuladen und einfach machen zu lassen hat sich meines Erachtens ausgezahlt. Ausgezahlt in dem Sinne, es wurden Grenzen nieder gerissen und neue Perspektiven eröffnet, wie auch ehedem es Beuys gemacht hatte. Die Zeit wird zeigen inwieweit die Kunst die neu gewonnenen Wege begehen und dadurch neue Grundlagen erarbeiten kann.
Nehmen wir Julie Mehretus Malereien und Zeichnungen, Mogamma (A Painting In Four Parts), die in der documenta Halle hingen. Es sind Bilder die auf der einen Seite an Architektur- Zeichnungen erinnern, dann sieht man aber auch japanische Tusche Zeichnungen oder auch topografische Skizzen. 30 Minuten sah ich diffuse Gebäude, Flugrouten und kartografierte Höhenzeichnungen. Es ist das Zusammenwirken der unterschiedlichen Disziplinen, die den Reiz der Exponate von Julie Mehretus ausmachen.  Sie ist ein Mensch der in New York zwar ihren ständigen Wohnsitz hat, aber durch ihre vielen Verbindungen ein gewisses Nomadenleben einer Künstlerin führt.

Oder nehmen wir Gustav Metzger, 86 Jahre alt! Metzger überlebte den  Holocaust nur deshalb weil er durch einen Kindertransport (auch Refugee Children Movement ) nach England verschickt wurde. Dies prägte ihn wie viele andere dieser Generation nachhaltig.  Metzger, vital wie nie zuvor, scheint mit zunehmendem Alter noch die Welt einreißen zu wollen. Er hatte seine Arbeiten vor 1959 hervor geholt, sie in Vitrinen gelegt und mit Filzteppichen abgedeckt. Dies Arbeiten „Too Extreme:ASelection of drawning by Gustav Metzger from 1945 to 1959/60“. Es sind Arbeiten auf Papier, die von den Besuchern durch anheben der Filzteppiche betrachtet werden. Intuitiv erklären sich die Bilder selber indem sie uns zu etwas bringen was wir manchmal mehr sein sollten, nämlich neugieriger.

Wir erkennen in abgedeckten Räumen die Gefahr, die durch unsere Neugierde erfahrbar wird und nicht mehr als Gefahr wahr genommen wird. Es ist die „Auto Creative Art“ von Metzger die uns nochmals dazu verleitet den Holocaust in Erinnerung zu bringen; denn wenn wir damals näher hin gesehen hätten, hätten wir die zukünftigen Verbrechen erkennen müssen. So aber haben wir wieder alles zu gedeckt was wir sahen. Es war nicht mehr sichtbar.

 

 Zu guter Letzt nehmen wir einmal Goshka Macuga mit ihrem Werk "Of what is, that it is; of what is not, that is not 1". Die junge Polin die heute in London lebt zeigt uns mit ihrer Fotocollage über einen friedlichen Empfang vor dem Kabuler Königinnenpalast in Afganistan.

Es sind Mitarbeiter von Ministerien, Journalisten, Archäologen,  Angestellte der NGO. Die  gesamte Komplexität des Afganistan Krieges verbirgt sich in diesem 5,2 x 17,4 großen Wandteppich. Indem dieser Teppich in der Rotunde installiert wurde, vermag man den Halbkreis dieser Gesellschaft zu erkennen. Durch den Besucher ergänzt sich der Kreis und die politischen und wirtschaftlichen Probleme finden sich in dem Kreis wieder, der sich um die Lösung bemühen sollte.

Halbkreis und Halbkreis stellen letztendlich die zwei Halbwahrheit dar die wir gerne als real ansehen wollen. Macuga ist eine Frau, die mit scharfen Augen körperliche Erfahrung herbeiführen kann und das politische Potenzial der Kunst erkennen lässt.
Hier höre ich auf, drei große Künstler sollten reichen, die  – wenn man ihnen den Freiraum einräumt – und das hat Carolyn Christov-Bakargiev ,die künstlerische Leiterin, jedem eingeräumt, etwas
Neues erschaffen, welches zumindest einem Grenzgänger zur Ehre gereicht.

Ach ja, haben sie schon einmal DNA geschenkt bekommen?
Alexander Tarakhovsky hat DNA, solange der Vorrat reichte verschenkt. Sie brauchten die DNA nur nehmen und wieder gehen. Ohne Danke zu sagen. Auch das war die (13)documenta. Verrückt, oder? Nein!

Lassen wir uns nur einige  Stichworte der (13)documenta in Erinnerung rufen: Kunst als „collaboration“, als Urinstinkt, als Intervention durch die Natur, als Metamorphose oder Metabolie oder die Kunst die keine Antwort auf Fragen liefert. Oder Kunst als soziale Klammer, die seinen Sozius sucht. Carolyn Christov-Bakargiev hat Recht gehabt, wenn sie von dem nichts wissen wollte was „ihre“ rund 300 Künstler machen. Warum sollte sie es wissen wollen, sie hatte das Vertrauen welches immer belohnt wird und wurde.

  

Die Philosophin und Wissenschaftlerin Vinciane Despret behauptet:

Die Ratte schlägt dem Studenten und der Student der Ratte eine neue Art und Weise von »Gemeinsam-Werden« [»becoming together«] vor, wodurch neue Identitäten entstehen: Die Ratten bieten den Studenten die Möglichkeit, »gute Experimentatoren zu sein«, während die Studenten ihren Ratten die Möglichkeit bieten, das »Zusammensein mit einem Menschen« um neue Bedeutungen zu erweitern, eine Möglichkeit, neue Formen des »Zusammenseins« zu entdecken. 

Sie fügt hinzu, dass Vertrauen eine Form von Liebe ist, und dass das Gefühl des Vertrauens es dem Potenzial ermöglicht, Realität zu werden. Man bringt sich in eine Position der Offenheit, des Glaubens, der Leidenschaft:

Das Wissen »leidenschaftslos« zu machen, führt uns nicht zu einer objektiveren Weltsicht, sondern nur zu einer Welt »ohne uns«, und damit auch ohne »sie« – Grenzen werden so schnell gezogen. Und solange uns diese Welt als eine Welt erscheint, »die uns egal ist«, wird sie auch eine verarmte Welt sein, eine Welt aus Verstand ohne Körper, aus Körpern ohne Verstand, Körpern ohne Herzen, Erwartungen, Interessen, eine Welt von begeisterten Automaten, die fremdartige und stumme Kreaturen beobachten; anders gesagt, eine schwach artikulierte (und sich schwach artikulierende) Welt.“*1

  1. *1 Vinciane Despret, »The Body We Care For – Figures of anthropo-zoo-genesis«, in: »Bodies on Trial«, hrsg. v. M. Akrich und M. Berg, Body and Society,
10, Nr. 2/3, Juni 2004, S. 111–134. http://vincianedespret.blogspot.com/2010/04/body-we-care-for-figures-of-anthropo.html.
Dem 16 seitigen Essay  von Carolyn Christov-Bakargiev entnommen.

Und lassen sie, geneigte Leserin oder Leser uns mit einem Spruch der künstlerische Leiterin  Carolyn Christov-Bakargiev enden.


 »Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit«

Es dauerte eine wirklich lange Zeit. Und wenn der Zufall nicht gewesen wäre, hätte ich diesen Tanz nicht tanzen können. Sorry, das musste gesagt werden, bevor der Tanz zu Ende ist. Es war ein verdammt guter Tanz. Am 16. September ist die (13)documenta Vergangenheit, die 100 Tage sind um, es dauert 5 Jahre bis zur (14)documenta. Wir sehen uns, ganz sicher, ja.

 

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Kassel

[Fotos: © EN-Mosaik]

Update: 17.September 2012

Die (13)documenta hat ihre Tore für 5 Jahre geschlossen. Es haben 860.000 ( 14% mehr gegenüber der letzten Ausstellung ) Besucher die Kunstausstellung gesehen, davon waren 12.500 ( 112% mehr gegenüber der letzten Ausstellung )Dauerkarten registriert worden.Der durchschnittliche Besucher hielt sich 3 Tage in den Hallen und Freiräumen auf. Die Ausstellungsleitung zog eine überaus positive Bilanz der 100 Tage.