[la] Wer den europaweit gefeierten Theatermacher Romeo Castellucci kennt, weiß dass er gerne mit Bildern arbeitet, wobei seine Bilder während einer Vorstellung intuitiven Wandlungen ausgesetzt sind. Er gehört zu den neuen Regisseuren, die ihre Stücke modellieren und das Publikum in einem eigenen Modulationsvorgang mit einbezieht. Und so entstand in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord das Stück „Folk“.
Allein die leere, einem Kirchenschiff ähnelnde etwa 50 m lange Halle, mit ihren hohen Rundbogenfenstern, strömt emotionale Empfindungen auf den Besucher aus. Das alte, fleckige, leicht morbide Mauerwerk ist schon allein für den Betrachter eine Art Kunstwerk. In einer Form von Interaktion bezog Castellucci das Publikum in seine Planungen mit ein.
Es ist nicht wie bei üblichen Theaterveranstaltungen, dass das Stück erst beginnt, wenn alle Zuschauer ihre Plätze eingenommen haben. Ganz davon abgesehen, dass es in Romeo Castellucci´s Werk "Folk" gar keine Sitzplätze gibt. Wenn die ersten Besucher die spärlich beleuchtete Halle betreten, hat das Stück schon begonnen. Mittig in der großen Halle steht ein großes Wasserbassin mit aufblasbaren Wänden, ähnlich einem riesigen Schlauchboot – nur das das Wasser eben in diesem Becken ist.
Durch die Halle ziehen leichte Nebelschleier, verflüchten sich allmählich und geben so einen besseren Blick auf das Bassin frei. Sphärische Klänge von dem amerikanischen Komponisten Scott Gibbons, durchdringen den Raum, schwellen an und ab und begleiten die Szenerie fortwährend, ohne Unterbrechung. Scott Gibbons ist bekannt als Composer und Performer electroacoustischer Musik.
Mittendrin im Bassin steht ein Mann in voller Straßenbekleidung und empfängt mit ausgebreiteten Armen vom anderen Ende des Beckens eine junge Frau, die ebenfalls in voller Montur über den Beckenrand klettert und auf ihn zugeht. Der junge Mann empfängt sie, stützt sie leicht, während sie ihre Nase zuhält und taucht sie dann – einer Taufe ähnlich – völlig unter Wasser, hilft ihr auf, sie schauen sich glücklich an, umarmen sich. Dann verlässt der Mann das Becken und die soeben von ihm getaufte Frau setzt das Ritual, nunmehr selber Täuferin, fort.
Während dieser Zeit betreten die ersten Besucher den Raum und verteilen sich rechts und links um das Becken. Mit der Zeit strömen immer mehr in den Raum während die Zeremonie im Becken unbeirrt weiter fortschreitet.
Man kann sich diesem Eindruck der Stimmung des Raumes, der Musik, der wortlos sich ständig wie in einem Ritual erneuernden Bilder nicht entziehen und nur alles emotional aufsaugen, erspüren.
So geht es eine geraume Zeit weiter und obwohl die Szenen eine ständige Wiederholung erfahren ist alleine das Wahrnehmen der wechselnden Personen, der unterschiedlich emotionale Ausdruck ihrer Gesichter, die Art der Taufe und Umarmung ein gewisses Spannungsfeld, so dass man dem Treiben gespannt zuschaut.
Um so heftiger wird diese Betrachtung plötzlich zunächst durch einen heftigen Schlag, dann durch zwei weitere an den Fensterscheiben unterbrochen. Letztendlich endet diese Unterbrechung in einem immer stärker fordernden Poltern, das fast donnerartig anschwillt. Die Zuschauer unterhalb der Rundbogenfenster verlassen ihre Position und drehen sich den Fensterscheiben zu. Manche verlassen sogar ihren Standort und wechseln zur gegenüberliegenden Seite. Und jetzt wird klar, draussen werfen sich menschliche Körper gegen die Scheiben. Schemenhaft werden durch die milchigen Scheiben die Silhouetten der Körper und Hände sichtbar. |
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Sie begehren Einlaß, nein, sie fordern ihn. Wütend das ihnen der Einlass verwehrt wird, bzw. nicht gelingt. Was ist mit ihnen? Haben sie Angst. Fliehen sie vor jemandem? Wollen sie einfach nur auch innen dabei sein, dazu gehören, oder werden sie von zerstörerischen Kräften getrieben, die dem Spiel im inneren des imaginären Kirchenschiffes ein Ende setzen wollen.
Romeo Castellucci lässt diese Frage offen im Raum. Es gibt, wie überhaupt für das Stück, keine festen Erklärungen. Die Vorstellungskraft und Deutung des einzelnen Teilnehmers ist gefragt und führt am Ende des Stückes zu reichhaltigen Diskussionen unter den Besuchern.
Ist es das, was Castellucci meinte, als er sagte: »Alles in allem widmet sich diese Aufführung den charakteristischen Verhaltensmustern des Menschen: Gemeinschaft, Trennung, Isolation. Aus der Ferne beobachten. Sich selbst in Sicherheit bringen. Alleine sein.« (Romeo Castellucci)
Innen geht trotz des teils ohrenbetäubenden Lärms der undefinierbaren Gestalten das Ritual der Taufe weiter. Die Scheiben halten zum Glück und irgendwann verlässt diese Körper dort draußen die Kraft und einer nach dem anderen fällt mit ausgebreiteten Armen ins Nichts. Die Schatten vom milchigen Fensterglas lösen sich auf und allmählich gibt es wieder nur das "Innen".
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So geht es noch eine kurze Zeitspanne weiter, bis plötzlich einer der Personen im Becken den "geheimen Vertrag" bricht und dem neu hinzu gestiegenen Mann den Rücken zu dreht und achtlos das Becken verlässt, ohne die taufähnliche Symbolik bei ihm anzuwenden. Das ist der trennende Punkt, der enttäuscht Zurückgelassene richtet eine Hand mit ausgestrecktem Finger nach oben und gibt so einem Außenstehenden das Zeichen zum Abbruch, zur Vernichtung des Geschehens. Mit immer wieder kehrenden Angriffen zerschneidet der Aussenstehende in zerstörerischer Weise die Wände des Gummibassins. |
Das zunächst entstehende Rinnsal wird immer stärker und mit unbändiger Wucht bricht das Wasser aus dem Bassin und flutet die Halle.
Menschen flüchten seitlich auf die rettenden Roste. Andere ziehen blitzschnell Schuhe und Socken aus und verharren an Ort und Stelle, wobei das Wasser ihre Füße umspült. Spätestens jetzt sind sie ganz Teil der Inszenierung. Schauspieler, Statisten und Besucher werden ein "Folk" und es ist kaum noch auszumachen, wer wozu gehört.
Dann werden mit schweren Kränen die Seitenwände des Beckens nach oben gezogen und hängen naßglänzend und schwer von der Hallendecke, fast wie Tiere in einem Schlachthof. Auch hier wieder die immer überall vorhandene Symbolik. Das Becken war geopfert worden, hatte seinen Sinn und seine Bedeutung verloren. Der Mann, der gerade noch das Zeichen zum Ende des Rituals gegeben hatte, schaute nun verstört in die Runde. Dann setzte er sich an ein Pult, in welchem in einem Negativkasten die "Urformen" ausgespart waren und versuchte nun, den Vertrag wieder zu erneuern, indem er die sich vor dem Kasten befindlichen Symbole eines nach dem anderen wieder in die dazu passenden Öffnungen einlegte. Bei fünf Teilen gelang es ihm auch rasch und ohne Schwierigkeiten. Beim letzten Teil, dem Viereck, war es jedoch nicht möglich, da es zu groß war. Er versuchte es wieder und immer wieder. Wartete verzweifelt auf Hilfe, aber alle schauten nur interessiert seinem Treiben zu und blieben fern. Vor Verzweiflung weinend stand er letztendlich auf und verließ mit seinem Viereck mit den Zuschauern abgewandtem Gesicht den Raum. Er hatte versagt, war verlassen.
Das Stück war beendet, ohne Vorhang, ohne Verbeugung der Darsteller, ohne Erklärung. So wie es begonnen hatte hörte es auch auf. Die Zuschauer verließen nach und nach den Raum bis die Gebläsehalle wieder leer war.
Schauspieler des Werkes sind: Silvia Costa /Diego Donna/Luca Nava /Sergio Scarlatella/Giacomo Strada/Horst Bergs und 100 Statisten aus der Metropole Ruhr, die Romeo Castellucci extra für diese Darbietung gecastet hatte und die ihre Rolle mit einer solchen Leidenschaft einnahmen, dass man meinen konnte, sie gehören ständig zum Ensemble. Aber vielleicht war es gerade diese Natürlichkeit, diese ungekünstelte Darstellung und Herzlichkeit der Statisten, die wirklich alles gaben, mit der Romeo Castelluccis seine Vision begreiflich machen konnte.
Keine große Handlung, keine außergewöhnlichen Acts, aber eine spannende Stunde, die jeden Besucher auf seine Art in den Bann nahm und bewegte, eine ganz eigene bild- und klanggewaltige Bühnenästetik.
24.08.2012, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord, Ruhrtriennale.
[Romeo Castellucci "FOLK"]
Linde Arndtt für EN-Mosaik aus Duisburg
[Fotos: © Linde Arndt]
siehe auch die Gallery unserer Fotojournalistin zu diesem Thema]