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Wie viel Merkel darf´s sein für eine lebendige Demokratie?

François Hollande und Angela Merkel Foto und Collage: Linde Arndt

François Hollande und Angela Merkel Foto und Collage: Linde Arndt

[jpg] Sechs Minuten soll der Applaus gedauert haben als Angela Merkel mit 95,9 % der Delegierten am 10. April 2000 in der Essener Grugahalle zur Nachfolgerin des damaligen Übervaters Helmut Kohl zur neuen Parteivorsitzenden gewählt war. Angie, Angie, der Stones, trällerten die anwesenden CDU Delegierten überglücklich. Angela Merkel sollte wieder die damals zerrissenen CDU zusammenführen und ihnen eine neue Perspektive geben. Angela Merkel führte die CDU zu neuen Ufern, sie, die ja schon die Mitte für sich in Anspruch nahm, rückte die CDU mehr nach links und eroberte sich die Politikfelder der SPD. Rechts von ihr hielt ihr die bayrische Schwesterpartei den Rücken frei. Mit der Zeit entwickelte sie eine Strategie wo nach Bedarf die CSU als Opposition auftrat oder auch als Mehrheitsbeschaffer. Zwischen CDU/CSU passte und passt kein Blatt Papier.

Alles Schauspiel? Ich denke ja. Wobei sich die Frage stellt, wer die/der bessere Schauspieler ist, Angela Merkel CDU oder Horst Seehofer CSU.

Der chinesische General Sun Tsu, dessen Weisheiten von den Eliten der damaligen DDR, und zu diesen gehörte eben eine Angela Merkel, gerne gelesen wurde, umschrieb die Strategie einer guten und effizienten Führung mit, „Siegen, ohne zu kämpfen“ (Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.). Denkt man an Roland Koch oder an Friedrich Merz und deren Verschwinden von der politischen Bühne, immerhin stellten beide eine Alternative zu Angela Merkel, so kommen die Weisheiten des chinesischen Generals unweigerlich ins Gedächtnis. Ja, Angela Merkel könnte von General Sun Tsu gelernt haben.

Nur General Sun Tsu hatte nichts mit unserer heutigen Demokratie zu tun, vor 2.500 Jahren hatte man in China den „Absolutismus“ in dem der oberste Herrscher Gottgleich regierte.

2017 sehen wir die Demokratien in Europa und damit auch in Deutschland in der Krise. Brexit, Ukraine, Russland, Rechtspopulisten, EU, Protektionismus, Nationalismus oder auch Isolationismus um nur einige Baustellen in Europa und damit auch Deutschlands zu nennen, erfordern Köpfe die überzeugend die Demokratie vertreten können. Deutschland kommt hierbei als europäischer Staat eine besondere Rolle und Verantwortung zu. Der Motor Frankreich – Deutschland ist ausgefallen, Frankreich hat Präsidentenwahl und Deutschland Bundestagswahl.

Vor der Wahl wird immer ein Spitzenkandidat gesucht und da machte die CDU es sich leicht, allzu leicht, sie verschwand in die Hinterzimmer und kam mit einer Kandidatin zurück – Angela Merkel.

Kein Gegenkandidat, keine Alternative und auch keine Vision. Bei einer Partei mit über vierhunderttausend Mitgliedern, eine beschämende und nichtssagende demokratische Vorstellung.

So wählten die CDU Delegierten „ihre“ Angela Merkel mit 89,5% zu ihrer Spitzenkandidatin, wen sollten sie denn auch wählen? Viele der Delegierten blieben der Abstimmung fern indem sie sich mit dem Buffet befassten.

Was machen eigentlich unsere Nachbarn, unsere Freunde?

Schauen wir bei unseren französischen Nachbarn, wie dort die „les Républicains (früher UMP)“, also die Konservativen ihren Spitzenkandidaten auswählten, denn auch die Franzosen haben die gleichen Probleme mit der Demokratie.

Sieben Kandidaten hatten die Konservativen öffentlich aufzubieten, alle Kandidaten mit einer eigenen Agenda, alle stellten sich den Fragen von unabhängigen (!) Journalisten.

  • Jean-François Copé       
  • François Fillon    
  • Alain Juppé       
  • Nathalie Kosciusko-Morizet    
  • Bruno Le Maire    
  • Jean-Frédéric     Poisson    
  • Nicolas     Sarkozy    

 

François Hollande (Frankreich) Foto: Linde Arndt

François Hollande (Frankreich) Foto: Linde Arndt

Zur Wahl, bzw. Vorwahl wurden alle Franzosen aufgerufen die die Parteistatuten respektieren konnten. Und die Franzosen kamen und wählten – 4 Millionen Wähler fanden sich ein. Es war neu, dass die Franzosen über einen bzw. ihren Spitzenkanditaten,zumal von einer anderen Partei, selber bestimmen sollten, selbst die Linken wählten mit, wen sie denn als ihren politischen „Gegner“ haben wollten. Wäre es nach den Parteimitgliedern gegangen hätten Nicolas Sarkozy oder Alain Juppé das Rennen um die Kandidatur gemacht. Durch die allgemeine Vorwahl und die nachfolgende Stichwahl wurde jedoch ein Außenseiter, nämlich François Fillon, ein Erzliberaler, zum Kandidaten der „les Républicains“ erkoren.

Und die Linken, sie schaffen es nicht nochmals eine „Front de Gauche“ („Linksfront“) wie 2005 entstehen zu lassen. Zu groß war die Enttäuschung über den derzeitigen Präsidenten François Hollande, der Sozialistischen Partei (PS). François Hollande zog denn auch die Konsequenzen und kündigte an, nicht mehr zur Wahl 2017 anzutreten. Von der Linken sonderten sich Jean-Luc Mélenchon, der Deutschland mit seiner derzeitigen Regierung sehr kritisch gegenübersteht und Emmanuel Macron, ein Querdenker der zwischen links und rechts nicht unterscheiden mag und mit seiner Partei „En Marche“ (Vorwärts oder voran) den Rückwärtsgang aus der französischen Politik rausnehmen möchte. Und dann sind da noch die sieben Kandidaten die sich im TF1/RTL/LÓBS eine erste Debatte lieferten und sich den Fragen von Journalisten stellten.

  •     Jean-Luc     Bennahmias
  •     Benoît     Hamon    
  •     Arnaud     Montebourg    
  •     Vincent     Peillon        
  •     Sylvia     Pinel    
  •     François     Rugy    
  •     Manuel     Valls    

 

Fast alle Kandidaten waren schon mal im Kabinett François Hollandes als Minister, wobei Valls sogar Ministerpräsident war. Nach einer ersten Umfrage führten Arnaud Montebourg mit 29% und Manuel Valls mit 26%. Man darf gespannt sein welcher der sieben Kandidaten die Sozialisten anführt. Bei dem öffentlichen Auftreten, sah man ein breitgefächertes politisches Tableau, welches jeder der Kandidaten zu bieten hat.

Und dann ist da noch Marine Le Pen Parteivorsitzende des Front National (FN) und Europaabgeordnete, sie treibt mit ihren politischen Äußerungen, die mehr oder weniger populistisch geprägt sind, Linke und Konservative vor sich her. Sie ist die Analogie der deutschen AfD. Beide Parteien, in Frankreich die FN und in Deutschland die AfD, bestimmen die Marschrichtung der Politik. Wobei man Marine Le Pen sogar den Sieg der Präsidentschaftswahl zutraut. Anfang Februar werden wir mehr wissen, weil dann alle Kandidaten feststehen.

Die eigentliche Präsidentenwahl wird am 23. April 2017 stattfinden  und am 7. Mai 2017 wird in der Stichwahl der neue Präsident feststehen.

Soweit ich das zur Zeit übersehe, gibt es also 17 Kandidaten*innen die sich einer Wahl stellen, jeder war aufgerufen und konnte seinen Hut in den Ring werfen. Fillon von den Konservativen war die erste Überraschung, ihn hatte keiner auf dem Radar. Bei den Linken diskutiert man über die ehemalige Justizministerin Christiane Taubira von der PRG als Kandidatin. Sie hätte zwar keine Chance gehabt in die Endrunde zu kommen, hätte der Linken jedoch eine moralische Basis gebracht.

 

Wieder zurück nach Deutschland, was macht die deutsche Linke ?

 

Bundeskanzlerin  Angela Merkel  Foto: Linde Arndt

Bundeskanzlerin
Angela Merkel Foto: Linde Arndt

Die SPD diese über 150 Jahre alte Partei will eine Linkspartei sein, zumindest betont sie es immer wieder. Tatsächlich hat sie sich unter Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 zu einer liberalkonservativen Partei entwickelt. In der großen Koalition mit Bundeskanzlerin Merkel hat sie sich so schleifen lassen, dass kaum Unterscheidungsmerkmale vorhanden sind. Wenn die CDU heute konservativ ist, so ist die SPD als konservativ light einzuordnen. Und wie das so ist, wenn man kein Alleinstellungsmerkmal mehr hat, geht man unter. Heute hat die SPD nur noch einen Bodensatz von 20% an Wählern. Die mehr als vierhunderttausend Mitglieder haben ein Durchschnittsalter wie bei der CDU von 59 Jahren, also findet man eine Mehrzahl der Mitglieder in Pflege- und Altenheimen.

Von einer Volkspartei kann man hier kaum noch reden. Interessant wie sich die SPD ihren Spitzenkandidaten, der/die ja immerhin den Kanzler stellen würde, zusammen bastelt. Der Parteivorsitzende der SPD Sigmar Gabriel hat den Vorgriff auf diese Kandidatur. Immer? Ja, immer, seit Jahren. Nun muss in Brüssel Martin Schulz, der bis dato den Parlamentspräsidenten machte, durch einen Vertrag (Demokratie?) den man mit den Konservativen 2014 geschlossen hatte, seinen Stuhl auf Kosten der Konservativen räumen. Schon wird spekuliert ob nicht Martin Schulz die Spitzkandidatur für die Bundestagswahl machen sollte; denn Schulz ist laut Umfrage beliebter als Gabriel. Ende Januar oder Anfang Februar 2017 wird man wohl den Kandidaten bei der SPD ausgeguckt haben, wie immer wird es wahrscheinlich keinen Gegenkandidaten geben.

Bei der Partei „Bündnis90/Die Grünen“ musste es eine Doppelspitze für die Spitzenkandidatur geben. Katrin Göring-Eckardt als einzige weibliche Kandidatin, ist, da die Grünen ein Paar an der Spitze haben wollen, schon mal gesetzt. Der männliche Part für die Spitzenkandidatur wird denn unter den drei Kandidaten Robert Habeck, und Anton Hofreiter und Cem Özdemir in einer sogenannten Urwahl ausgelost. Wirklich neu und mutig ist diese Art der Kandidatenfindung wohl nicht. Und was den Status „links“ angeht, so kann man das bei Bündnis90/Die Grünen nicht mehr nachvollziehen, auch sie haben sich über die Jahre emsig zur Mitte hinbewegt. Cem Özdemir hat es denn auch, zwar knapp, geschafft der zweite Kandidat neben Katrin Göring-Eckhardt zu werden. Jetzt munkelt man im Mainstream eine Koalition mit schwarz/grün herbei. Alle freuen sich wie Bolle über die beiden grünen Realos, die für politische Bewegungslosigkeit in Deutschland garantieren sollen.

Bleibt die letzte ernstzunehmende Partei in Deutschland „Die Linke“. Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, beide halten den Fraktionsvorsitz der Linken im Bundestag, sie wurden im Hinterzimmer durch den Parteivorsitz zur Spitzenkandidatur gekürt. Demokratie? Auch hier kann man keine Bewegung sehen, die die Demokratie lebendiger machen könnte.

Ach ja. Und irgendwo tingelt die FDP mit Christian Lindner durch die Lande und wärmt die 70 Jahre alten Themen von Steuersenkung und Bürokratieabbau wieder auf. Dabei hatte die FDP als sie noch in der Bundesregierung saß, die Umsatzsteuer im Beherbergungsgewerbe auf 7% (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) herabgesetzt. Dafür gab es von der Substantia AG, die einem der reichsten Deutschen, August Baron von Finck gehört, eine 1,1 Millionen Euro Parteispende. Und August Baron von Finck ist Miteigentümer der Mövenpick-Gruppe, die von diesem Gesetz 2010 profitierte.

Lebendige Demokratie und Politikverdrossenheit

Vergleicht man Frankreich mit Deutschland; denn immerhin stehen beide ja vor einer Wahl, so sieht man schon dieses behäbige der deutschen Demokratie. Auch die Themen, welche  die Kandidaten vortragen, könnten nicht unterschiedlicher sein. In Frankreich haben alle,  ich betone alle Kandidaten, eine eigene Agenda womit sie den Wähler und ihre Partei überzeugen wollen. Der Diskurs in Frankreich ist viel tiefer als in Deutschland. Auch Frankreich lässt sich teilweise die Themen von der rechten Front National diktieren, nur, die französischen Kandidaten verlieren sich nicht so tief in die Themen der Front National (FN). Allen ist in Frankreich bewusst, Marine Le Pen könnte Präsidentin der fünften Republik werden, wenn es nicht gelingt die Nichtwähler zu mobilisieren.

Auch in Frankreich herrscht eine Politikverdrossenheit gegenüber den etablierten Parteien und ihren Kandidaten. Die Politikverdrossenheit versucht man jedoch dort mit eigenen Demokratieformaten zu überwinden, wobei sich einige Bürgerbewegungen gebildet haben.

In Deutschland haben sich vor allen Dingen die jungen Bürger und die „armen“ Bürger von der Parteipolitik abgewandt. Und die etablierten europäischen Parteien bieten keine Perspektive mehr und treiben die meisten Menschen in den Egoismus.

Lebendige Demokratie kann so nicht bestehen und wird auch niemals eine Zukunft haben, wenn es weiterhin die abgehobene Schicht der etablierten Politiker geben wird.

Was tun, wie soll es weitergehn?

Der Weg Frankreichs ist da schon der bessere, nur auch dieser Weg führt nicht zu mehr Demokratie, vielmehr werden sich die gesellschaftlichen Gruppen gegenseitig blockieren. Diese Blockade kann man sehr gut an dem Flughafen-Großprojekt von Notre-Dame des Landes (NDDL) absehen. 16 Jahre hat der Widerstand gedauert, bei einer Bürgerbefragung haben sich 55% der Bürger für den Bau des Flughafen ausgesprochen. Damit wären alle Mittel erschöpft. Nicht für die Gegner des Flughafens, sie werfen der Regierung ein falsches Spiel bei der Fragestellung vor.

Die Zukunft sollte einen erweiterten offenen Dialog zwischen der Verwaltung, der Politik und den Bürger bringen. Dieser Dialog sollte auch soweit gehen, indem Teile der Systeme in Frage gestellt werden dürfen. Im Zusammenhang mit dem Flughafen-Großprojekt von Notre-Dame des Landes (NDDL) , ergab sich die Fragestellung nach dem Flächenverbrauch, der zu einem schützenswerten Verlust von Kulturlandschaft führen würde. Bauern und Bürger haben sich im westfranzösischen Departements Loire-Atlantique über alle bürgerlichen Grenzen zusammen gefunden. Wenn die Zentralregierung nicht zu einem Dialog findet, wird die Politikverdrossenheit sich sicher verstärken.

In Deutschland würde solch ein Projekt, man denke da an Stuttgart 21, par ordre du mufti irgendwie durchgedrückt.

Deutschland muss also noch viel Merkel wählen um endlich eine lebendige Demokratie zu bekommen.

 

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik und European-Mosaik

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Europa torkelt und sucht sich selber

Europafahnen Foto: Linde Arndt

Europafahnen Foto: Linde Arndt

[jpg] Am Vorabend des Brexit ( EU-Referendum in Großbritannien am 23.Juni 2016) ist es Zeit noch einmal über Europa nachzudenken.

Es war der britische Premiermininister Edward Heath (Konservativer) der 1973 den Beitritt Großbritanniens in die damalige EWG gegen alle Wiederstände durchsetzte und seine Unterschrift unter das Beitrittsdokument setzte. Zwei Jahre später also 1975 fand ein Referendum von Premierminister Harold Wilson (Labour) iniiert in Großbritannien statt, indem die Briten entscheiden sollten ob sie in der EWG bleiben sollten oder nicht.

67% der Briten entschieden sich damals in diesem 75er Referendum für den Verbleib in der (damals) EWG. Waren die Briten zum Zeitpunkt des Beitritts noch skeptisch, hatte sich dies nun grundlegend gewandelt. Die Befürworter und Gegner dieser Mitgliedschaft fanden sich, wie heute auch, in allen Parteien. Wobei Margaret Thatcher, die damalige Vorsitzende der Konservativen, eine aktive Befürworterin der Mitgliedschaft in der damaligen EWG war. Ein paar Jahre später wird Thatcher den berühmten Britenrabatt aushandeln. Die Mehrheit der Labour-Politiker sprachen sich gegen die EWG aus, während die Konservativen überwiegend für die EWG waren. Wobei die Regionen Schottland, Wales und Nordirland damals mehrheitlich gegen die EWG waren.

Und dann das Ergebnis, 67% für die EWG!

Heute 40 Jahre danach hat sich die Einstellung der Briten zur heutigen EU grundlegend geändert. Quer durch die Parteien macht man, wie zu Beginn der Mitgliedschaft, Gegner und Befürworter aus – die Briten haben sich polarisiert. Wie schlimm die Stimmung ist, kann man an dem Mord der Parlamentsabgeordneten der Labour Party Jo Cox festmachen, die eine starke Befürworterin des britischen Verbleibs war. Der Mörder von Jo Cox war ein Gegner der EU und stach deshalb bewusst die Parlamentsabgeordnete nieder.

Brüssel, so der Vorwurf des Konservativen Boris Johnson, will einen Superstaat aus Europa machen. Wobei Johnson inzwischen Nigel Paul Farage von der UK Independence Party rechts überholt hat und beide lautstark nach einem sofortigen Austritt aus der EU rufen. Premierminister David Cameron ist ein Befürworter des Verbleibs in der EU obwohl er dieses Referendum angestoßen hatte und den Brexit als erster ins Spiel brachte. Damit nicht genug, die Regionen Schottland, Wales und Nordirland wollen mehrheitlich in der EU bleiben und drohen mit einer Abspaltung falls der Brexit Realität wird. Die britische Wirtschaft, einschließlich der „City of London“ hat mehrere Brandbriefe an Cameron geschickt um auf die außerordentlichen Nachteile bei einem Austritt aufmerksam zu machen. Eine differenzierte Umfrage der Demoskopen sieht 74% der Briten als Gegner der EU, 53 % sind fest für einen Austritt und rund 20% würden gerne austreten wenn sie die Vor- und Nachteile überblicken würden.

Nun sollte man meinen, die Briten stehen mit diesem Loslösen von der EU alleine da. Weit gefehlt. Polen oder Ungarn stehen der EU inzwischen kritisch gegenüber und fühlen sich von Brüssel dominiert. Italien oder Griechenland sehen die EU auch nicht mehr so positiv. Und derweil feiern die Nationalisten in allen 28 EU Staaten fröhliche Urstände, so als wenn sie nie weg gewesen wären.

Stellt sich nun die Frage, wie konnte das passieren? Ein 70 Jahre altes europäisches Friedensprojekt vor dem Aus, die Briten sind immerhin auch schon 40 Jahre dabei.

Sind es nur die normalen Abnutzungserscheinungen die einer Institution nach einer gewissen Zeit den Garaus, wegen Reformunwilligkeit, beschert? Fehlt es an Führungspersönlichkeiten mit Führungsqualitäten? Haben die Zielvorstellungen sich verändert? Sind die Gemeinsamkeiten aufgebraucht? Sehen sich die 28 Staaten als gleichberechtigt in diesem Verbund?

Nun, es ist von allem etwas, eine schwierige Gemengelage. Lösbar? Ja, nur die Entscheider sollten sich etwas mehr auf den „Brückbau“ konzentrieren und nicht übereinander herfallen.

Auf den Fluren des Parlaments diskutieren die demokratisch gewählten Abgeordneten über den „Zerfall“ der EU, nur, das Problem liegt bei den Regierungschefs und den Fachministern die in den Ratssitzungen keine Grundeinigkeit erzielen.

v.l. François Hollande (französischer Staatspräsident), Bundeskanzlerin Angela Merkel und Premierminister des Vereinigten Königreichs David Cameron Foto: (c) Linde Arndt

v.l. François Hollande (französischer Staatspräsident), Bundeskanzlerin Angela Merkel und Premierminister des Vereinigten Königreichs David Cameron Foto: (c) Linde Arndt

Eines kann man jedoch sagen, die EU hat mehr Probleme als sie vertragen kann.

 

Problem Finanzen

 

Die Deutschen dominieren mit ihrer Sparpolitik die sie als alternativlos hinstellen, sie blockieren jede Art von Diskussionen über eine Finanz- und Währungspolitik. Das Eurosystem müsste unbedingt einer Reform unterzogen werden da einige EU-Länder Schwierigkeiten  aufgrund der Geburtsfehler des Euro haben mussten. Deutschland hat jedoch die meisten Vorteile in puncto des Euro-Systems, deshalb sieht Deutschland auch keine Notwendigkeit für eine Reform.

 

Problem Flüchtlinge

 

Merkel hat im September ´15 richtig entschieden, nur, sie hat sich nicht mit den anderen Staaten abgestimmt. Deutschland hat das nicht zum ersten mal gemacht. Diese Staaten sehen sich als übergangen und nicht gleichberechtigt. Die Österreicher kommen jetzt mit dem Vorschlag die Kriegsflüchtlinge so zu behandeln, wie die Australier, die die Kriegsflüchtlinge auf eine einsame Insel aussetzen und dort versorgen. Der österreichische Außenminister Kurz sieht sowieso die Schlepper als Verursacher des Flüchtlingsproblems. Er macht wie einige anderen Staaten die Grenzen wieder dicht und sonnt sich in der Nationalstaaterei. Nicht Kriege oder Hunger sind das Problem der Flucht sondern die Schlepper und die fehlenden Nationalstaaten.

 

Problem Griechenland

 

Alle Staaten mussten mit ansehen wie Griechenlands neue linke Regierung vorgeführt wurde. Der damalige Finanzminister Yanis Varoufakis hatte gute konstruktive Vorschläge (Ewigkeitskredit) die aber alle von dem deutschen Finanzminister und dem Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem öffentlich nieder gemacht wurden. Das Diktat der Troika (IWF|EZB|EU-Kommission) führt Griechenland in den Bereich der Staatsarmut – um  40% sind die wirtschaftlichen Leistungen gesunken. Bis heute sind die Lösungsmöglichkeiten, die die EU anzubieten hat, eher suboptimal.

 

Problem Freizügigkeit

 

Die EU garantiert die Freizügigkeit von Personen, Finanzen, Waren aber auch Dienstleistungen.

Finanzen und Waren, kein Problem. Bei Personen und Dienstleistungen sehen viele Staaten jedoch immense Probleme. So wollen Polen oder Rumänien ihre Bürger sofort als Arbeitnehmer in andere Staaten schicken, was den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme des Ziellandes durcheinander bringt. Viele Staaten, auch Deutschland haben gewisse Abwehrmechanismen welche die Freizügigkeit unterminieren. Jahre musste Polen oder Rumänien warten bis ihre Staatsbürger die volle Freizügigkeit genießen durften. Und heute? Großbritannien, wie andere EU-Staaten auch, möchte die Freizügigkeit für Arbeitnehmer eingeschränkt sehen und schiebt den Sozialmissbrauch in den Vordergrund.

 

Problem regionale Befindlichkeiten

 

Nur ein Beispiel: Das Polen in seiner wechselvollen Geschichte zwischen den beiden Großmächten Russland und Deutschland immer mal wieder zerrieben wurde, scheint in der EU nicht bekannt zu sein. Jetzt entwickelt sich daraus ein Nationalismus der den Polen das Gefühl gibt eine Identität wieder zu erlangen.

So ist es übrigens mit allen Ländern der EU die alle ihre eigenen Befindlichkeiten haben, die aber immer mal wieder von Brüssel missachtet werden. Brüssel ist nicht in der Lage die Vorteile der Identitäten, die ja gewollt sind, positiv zu kommunizieren.

 

Problem der Motor Frankreich/Deutschland

 

Beide Länder haben schwere innenpolitische Probleme. Der französische Staatspräsident Hollande musste mehrfach Einschränkungen bei den Gesetzesvorlagen hinnehmen. Im Moment kämpft er für seine Arbeitsmarktgesetze die er mit dem Artikel 49.3 durchsetzen will. Gleichzeitig lebt Frankreich im Ausnahmezustand wegen der Terroristen. Die Fußballeuropameisterschaft bringt Hollande auch keinen Punkt in der Beliebheitskala ein, zumal die permanenten Schlägereien das Fußballfest vermiesen. Hollande hat einen Tiefpunkt in der Beliebtheit erreicht wie noch kein Staatspräsident vor ihm. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel? Sie steht seit 1,1 Millionen Kriegsflüchtlinge von Deutschland aufgenommen wurden mit ihrem „Wir schaffen das schon“ und dem von ihr vermittelten Türkeiflüchtlingsdeal innenpolitisch unter Dauerbeschuss. Merkel hat wie Hollande anderes auf der Agenda als den Zusammenhalt von Europa. Und so sieht man einen Hochleistungsmotor Frankreich/Deutschland, der nicht mehr laufen will.

 

Warum eigentlich keinen Brexit?

 

Ja, warum eigentlich nicht? Hört man die Briten auf der Insel zum Beispiel die Grafschaften Cornwall, die ihre Strukturkrise nicht in den Griff bekommen oder Kent die sich mit ihren landwirtschaftlichen Betrieben über die überbordende Brüsseler Bürokratie beschweren, so kann man meinen die Briten wollen das Aus. Auch das europäische Festland ist nicht zufrieden mit den ewigen Sonderregelungen die die Briten aushandeln.

 

Alternativen zu einem Brexit.

 

EU Austritte sind eigentlich nicht vorgesehen, obwohl Wolfgang Schäuble die Griechen rausschmeißen wollte. Jedoch, die EU Regeln sind ja nicht in Stein gemeißelt, Regeln können immer verändert werden. Da kommt doch der Gedanken des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing der mit dem deutschen Außenminister Fischer im Disput aufgenommen wurde – die EU der zwei Geschwindigkeiten. Danach könnten die Briten, mal salopp gesagt, eine Runde aussetzen. Ein Kerneuropa mit klaren Regeln, die für alle Gültigkeit haben und ein Europa um dieses Kerneuropa. Die Briten bekämen einen Status wie, meinetwegen, Kanada ohne Ceta und würden nach einer gewissen (definierten) Zeit ihre endgültige Entscheidung treffen.

 

Ist Europa führungslos?

 

Deutschland, so haben viele der umliegenden EU-Staaten vorgeschlagen, sollte die EU führen. Nur, was versteht Deutschland unter Führung? Dominieren hat nichts mit Führung zu tun. Deutschland hat es nie verstanden eine kollegiale Führung auszuüben. So muss man sich nicht wundern wenn das Haus Europa im Rohbau bleibt und die Wirtschafts- und Währungsunion im Ansatz stecken geblieben ist. Von einem sozialen Europa wollen wir mal nicht reden. So war das von den Gründungsvätern des heutigen Europas De Gaulle und Adenauer nicht angedacht. So sind die 70 Jahre Frieden in Europa den Ideen der Gründungsväter zuzuschreiben.

Und wie weiter? Brüssel selber sollte sein Herz in die Hand nehmen und den 28 EU-Mitgliedern offensiv die Mitgliedschaft in Frage stellen. Wer jetzt kündigen will, soll es tun, wer nicht sollte als Gleicher unter Gleichen bleiben. Wir haben über 500 Millionen Einwohner in der EU der 28, haben aber ein Selbstbewusstsein wie ein Kleinstaat. Wir hatten ein Wertesystem bis zur Ukrainekrise, wir gaben es für die Einkreisungspolitik der USA auf. Schon 2013 hat Europa seine eigenen Werte verraten, dann wurden die Werte immer weiter abgebaut. Zuletzt wurden die Nationalstaaten wieder aus der Mottenkiste der Geschichte herausgeholt und scheinbar unüberwindbare Mauern errichtet.

Heute ist es Europa  egal ob im Mittelmeer tausende Kriegsflüchtlinge ertrinken. Die Ertrunkenen müssen noch zynische Kommentare ertragen. Was soll´s, nicht die Kriege haben die Kriegsflüchtlinge erzeugt, sondern die Schlepper. Nicht die von Europa gelieferten Waffen haben die Kriege ermöglicht, sondern das Unvermögen der Staaten in denen die Kriege entbrannt sind.

Ja Europa torkelt wie ein Betrunkener, der nicht mehr weiß wo sein zuhause ist, Menschenrechte haben wir durch Gesetze beseitigt und mit ihnen direkt auch die Menschlichkeit. Europa fängt jetzt einen neuen Krieg an, einen Krieg der Religionen der mit der Abschaffung der Toleranz einhergeht.

Ob Europa sich besinnt? Wohl kaum. Und doch besteht noch eine Chance wenn wir ein gutes Geschäft machen können, dann,  ja dann lässt Europa noch einmal eine Sektflasche knallen.

Schade eigentlich. Europa hatte und hat die besten Chancen auf der Welt. Von Europa kamen die besten Ideen, die fähigsten Leute die unseren Erdball reicher machten und macht. Die 28 Staaten haben sich gegenseitig inspiriert wie keine andere Region auf der Welt.

Und warum das alles? Nur weil ein paar ewig gestrige wie die französische FN (Front National), die britische UKIP (United Kingdom Independence Party), die niederländische PVV (Partij voor de Vrijheid) oder die österreichische FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) mit markigen Sprüchen die Leute verängstigt. Die etablierten Parteien haben nicht die Aufklärung entgegenzusetzen, sondern nichts anderes zu tun als die rechtspopulistischen Forderungen zu überbieten. Überzeugend ist das nicht.

Was mich in Brüssel immer wieder bekümmert ist ein wesentlicher Widerspruch den man Tag für Tag beobachten kann. Das europäische Haus ist im Aufbau, es ist ein immerwährender Prozess, spannend und fesselnd. Nur warum schüttet die Kommission und der Rat diese ätzende und lähmende Soße über diesen Prozess. Wo ist die Begeisterung der Gründerväter Alcide de Gasperie, Walter Hallstein, Jean Monnet, Robert Schumann, Paul-Henri Spaak oder Altiero Spinelli?  Taugen diese Namen nur noch für die Benennung der Gebäude im Europaviertel?

Diese Trunkenheit der EU wird ja mal zu ende gehen, hoffentlich hat Europa dann keinen Kater und sucht dann einen Schuldigen. Noch ist es Zeit für konstruktive Lösungen. Europa kann mehr als nur torkeln und jammern.

 

Jürgen Gerhardt für european-mosaic und EN-Mosaik aus Brüssel.

Wir sollten uns nicht selber verraten

 

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel Foto: (c) Linde Arndt

Bundeskanzlerin Angela Merkel Foto: (c) Linde Arndt

[jpg] Angela Merkel hat die Ruhe weg. Ob das nun im europäischen Parlament mit Präsident François Hollande war oder am gleichen Abend bei Anne Will im Interview. Immer, und immer wieder dieses Credo: „Wir schaffen das!“

Man muss allerdings genau hinhören um zu erfahren, dass die Bundeskanzlerin einen Lernprozess durch gemacht hat, der letztendlich zu ihren umstrittenen Entscheidungen führte. Was verwundert, ihr ist es egal, wie beliebt sie im Moment ist. Sie ist nicht stur, sondern verfolgt einen gradlinigen Weg. Ihr Weg: Die Wertegemeinschaft.

Die Dublin Verordnung ist obsolet, sie hat sich nicht bewährt, so Merkel. Unaufgeregt erklärt Merkel, wir müssen darüber reden. Sie erinnert an die Wiedervereinigung und den Auftritt von Helmut Kohl, der mit François Mitterrand vor 26 Jahren in Strasbourg zusammen Europa beschworen hatte. Damals wie heute ging es um das Haus Europa, um mehr Europa und um mehr Union, wie Kommissionspräsident Juncker es beschwor.

So reklamierten der französische Präsident François Hollande und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die europäische Solidarität. Diese Solidarität, die Griechenland oder Italien mit dem Flüchtlingsproblem vernachlässigt haben. Dies muss anders werden, so beide. Realpolitik zwingt beide zum Umdenken bei der Frage wie gehe ich mit der Türkei um, die immerhin 2 Millionen Flüchtlinge der Nahostkriege aufgenommen hat. Da werden Partnerschaften möglich die bis vor wenigen Monaten undenkbar waren.

Vorwärts in die Zukunft ist bei Merkel die Zielrichtung und zwar mit den gemeinsamen Werten, die nicht verwischt werden dürfen weil die uns so stark gemacht haben. Ein Rückschritt in die Nationalstaaterei kann und darf keine Lösung sein. Denn die daraus entstehenden Probleme wären ungleich größer und führen zu keiner Lösung der derzeitigen Probleme, so Merkel. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sehr schmerzhaft war, hat uns nur diesen gemeinsamen europäischen Weg gezeigt.

Da geiferten Marine Le Pen (FN) und Nigel Paul Farage (UKIP) im europäischen Parlament mit der Nationalistenkarte herum, sie wollen kein Europa. Sie wollen einen starken Nationalstaat mit Isolation in einer globalisierten Welt der Bündnisse. Nordkorea lässt grüßen.

Es ist viel von Mut gesprochen worden, der französische Präsident François Hollande und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, zeigten trotzdem schon ein gewisses Verständnis für die Ängste der Europäer. Nur sie wollen sich von diesen Ängsten nicht leiten lassen. Gut so, möchte man meinen. Es sind im Moment zu viele Brandstifter unterwegs, denen Europa gleichgültig ist und die am liebsten die Flüchtlinge wieder ins Mittelmeer treiben würden. Das hat aber nichts mit Werten zu tun, eher mit Menschenverachtung.

Und Abends bei Anne Will? Anne Will fehlt es an politischem Gespür, sie wollte die Bundeskanzlerin bloßstellen, eine Schlagzeile haben, an Aufklärung oder Informationen war sie nicht interessiert. Nur das funktioniert nicht mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Man muss unsere Bundeskanzlerin nicht mögen, nur, man sollte sie als Fernsehjournalistin doch kennen. Es war ein spannender Tag in Brüssel und im Studio der ARD mit Angela Merkel und François Hollande. Und wer war noch mal die Fernsehjournalistin?

 

Jürgen Gerhardt für european-mosaic und EN-Mosaik

 

 

 

 


 

Europa bedeutet mehr als nur ein paar Richtlinien

Tagung des Ausschusses bei der EU in Brüssel  Foto: Linde Arndt

Tagung des Ausschusses bei der EU in Brüssel Foto: Linde Arndt

[jpg] Vor Ostern sprach mich ein Kollege, der im lokalen Bereich arbeitet, an. Ob ich den neusten Schwachsinn der EU kennen würden. Nein, erwiderte ich. Die wollen jetzt nur noch Kaffeemaschinen produzieren lassen, die die Heizplatten nach 15 Minuten ausschalten, so mein Gesprächspartner. Dabei schaute er mich erwartungsvoll an. Über mein Smartphone sah ich den Bericht der EU ein um ihm dann zu antworten: Es geht um das Energiesparen. Und ob er denn wisse, wenn man diese Idee umsetze, das Europa tausende Tonnen von Co2 sparen könne? Er fand es trotzdem nicht so toll wenn er solch eine Kaffeemaschine hätte. So ist es wenn man die Zusammenhänge nicht wissen will und stattdessen sein Vorurteil pflegt.

Solche und andere Gespräche habe ich im letzten Jahr dutzendfach geführt und konnte niemanden von Europa und der EU überzeugen. Wie kommt das?

Es ist ein diffuses Gefühl was Menschen Brüssel ablehnen lässt. Es ist die größere Einheit von 28 Staaten und rund 500 Millionen Menschen die den Europäer zurück schrecken lässt. Und es sind die mangelnden Informationen über Brüssel, Straßburg, Frankfurt oder auch Warschau, eine gewisse Unaufgeklärtheit der Bürger. Sicher ist die EU an der Aufklärung nicht ganz unschuldig, wenn man sich manche Publikation ansieht.

Aber, und das ist für mich irritierend, die nationalen Politiker aller Parteien verstehen es den Bürger gegen Brüssel aufzuhetzen. Der Nationalstaat wird als hilflos gegenüber Brüssel dargestellt. Brüssel als Krake, die alles regulieren will.

Alles dummes Zeug der jeweiligen nationalen Politiker um die Menschen zu manipulieren. Denn wenn der Regierungschef eines Nationalstaates NEIN zu einer Richtlinie sagt, landet die Richtlinie in der Tonne. Alle Vorlagen müssen durch den Rat der Europäischen Union, der auf dem Consilium in Brüssel tagt. Mit Einstimmigkeit im Rat werden die Richtlinien verabschiedet, ein Staat der EU kann eine Richtlinie zu Fall bringen, wenn er NEIN sagt.

Die krumme Gurke und sonstige Einzelvorschriften wurden vom Rat abgesegnet, also von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten François Hollande oder dem britischen Premierminister David Camaron. Und das sind nur drei der 28 Regierungschefs.

v.l.: Angela Merkel, Francois Hollande und David Cameron  Foto: © Linde Arndt

v.l.: Angela Merkel, François Hollande und David Cameron
Foto: © Linde Arndt

Manchmal ist dieses Spiel unerträglich für die 751 Abgeordneten des europäischen Parlaments. Denn für die Fehler, die man noch nicht einmal gemacht hat, gescholten zu werden und für gute Ideen, die sich die Regierungschefs als Eigenverdienst ans Revers heften, nicht gelobt zu werden, macht den Parlarmentarier traurig und manchmal auch wütend.

96 deutsche Abgeordnete werden über die Listen nach der Europawahl 2014 nach Brüssel geschickt, 24 Parteien bewerben sich in NRW um Wählerstimmen. Neben den etablierten Parteien, wie CDU, SPD, FDP, GRÜNE und die Linke bewerben sich eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Parteien wie die NeoNazis oder christliche Parteien. Sperrklauseln, die in Deutschland fest verankert sind, wie die 5% Hürde des Bundestages, gelten für das Europaparlament ausdrücklich nicht – hier zählt am Ende jede Stimme. So hatte es das Bundesverfassungsgericht am 26. April 2014 unter Vorsitz von Richter Andreas Voßkuhle am Bundesverfassungsgericht gewollt.

Rund 60% der Vorlagen schaffen es durch den Rat, werden dann in nationale Gesetze der einzelnen Staaten umgesetzt. Die restliche 40% werden von Merkel und Co. abgelehnt.

Es sind Europawahlen am 25. Mai und wieder werden böse Spiele auf nationaler Ebene gespielt. So wird vorgegaukelt, der Kommissionspräsident, der derzeitige heißt Manuel Barroso, könne durch den Wähler bestimmt werden. Das ist falsch. Fakt ist, die Mitglieder des Rates, also die 28 Regierungschefs, bestimmen den Kommissionspräsidenten hinter verschlossenen Türen und zwar einstimmig.

v.l.: Martin Schulz und Jean-Claude Juncker  Foto: © Linde Arndt

v.l.: Martin Schulz und Jean-Claude Juncker
Foto: © Linde Arndt

Jean-Claude Juncker (Christlich Soziale Volkspartei), der ehemalige Eurochef und Martin Schulz (SPD) werden als wählbar für das Spitzenamt dargestellt. Sachlich ist auch das indirekt total falsch. Bei der deutschen CDU wird sogar noch einer drauf gesetzt, Bundeskanzlerin Angela Merkel wird indirekt als wählbar plakatiert. Ein Etikettenschwindel? Sicherlich erkennt man an solchen Verhaltensweisen nicht den Einsatz für Europa, den man sich wünschen würde. Europa ist für die Parteien nicht gerade ein Liebesprojekt für das man sich einsetzen sollte. Eben gerade sieht man in der Ukraine Krise wie die europäischen nationalen Spitzenpolitiker versagen und letztendlich den US-Amerikanern das Feld der Diplomatie in Europa überlassen. Mangels Selbstbewusstsein ist ihnen Europa egal. Wenn aber den Parteien Europa egal ist, wie soll sich denn dann der Wähler für Europa erwärmen?

Dann stellt sich doch die Frage, warum sollte der Wähler sich für Europa erwärmen und sein Parlament wählen?

 

Es gibt es, das Europa für das es sich einzusetzen lohnt.

Und aus dieser Behauptung kann man die Wahl am 25. Mai 2014 ableiten. Es ist das Europa, welches seit fast 70 Jahren Frieden hatte. Wenn man die ParlarmentarierInnen in den Ausschüssen und im Parlament beobachtet, was sie sagen, wie sie handeln und wie sie sich für eine Sache einsetzen, so sind sie sich der Verantwortung für unseren Kontinent bewusst. Sie sind engagiert und hochmotiviert etwas für Europa zu bewegen. Nicht alle, jedoch die überwiegende Mehrheit. Einige wenige sind noch mit Parteireflexen ausgestattet und denken in nationalen Kategorien, sie werden jedoch immer weniger.

Was ist mit den Grenzen? Auf dem Kontinent sehen wir an den Grenzen nur noch Ruinen der alten Grenzstationen und Wechselstuben aus längst vergessenen Zeiten. Womit wir das sind wo Europa hin wollte. Ein gemeinsamer Raum der gleiche Regeln hat, aber seine kulturellen Eigenheiten bewahrt. Die Vielfalt ist Europas Stärke.

Begonnen hat es mit der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion ( WWU ) als konsequente Folge des Europäischen Binnenmarktes. Der Euro wurde eingeführt und die Verrechnung von Warenlieferungen und Dienstleistungen wurden vereinfacht. Kaum einer erinnert sich an die teilweise großen Kurssprünge der internationalen Währungen, die unsere Exporte und Importe manchmal unkalkulierbar machten. Heute haben wir trotz der Unkenrufe nach der Finanzkrise, einen harten Euro der stabil ist. Wobei der Euro in vielen Ländern die Leitwährung ist und den Dollar abgelöst hat. Was die USA nicht gerne sieht, da die Wechselkursgewinne nun in Europa anfallen.

Der Vorteil für die 500 Millionen Europäer? Wir können ohne Probleme, ohne Zölle in jedem Land der EU einkaufen oder verkaufen. Wir haben die Wahl, kein Papierkram mehr.

Nun das hört sich jetzt so an, als wenn alles so wunderbar und fehlerfrei laufen würde. Nein, weiß Gott nicht, es sind noch Fehler zu beseitigen. Die Finanzkrise hat uns Europäer gezeigt, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen können. Ungeheure Anstrengungen der EU führen letztendlich zu einer starken Absicherung des Finanzsektors. Der letzte Schritt läuft noch – die Bankenunion.

Abgeordnete in einer Ausschuss-Sitzung   Foto: © Linde Arndt

Abgeordnete in einer Ausschuss-Sitzung
Foto: © Linde Arndt

Was war passiert? Ein Systemfehler, der sich aus dem Konstrukt der EU ergab, der die EU in den Abgrund hätte reißen können. Aber die EU hatte ja die EZB, die sich des Fehlers annahm und nachjustierte. Allerdings kann man heute sagen, hätten wir die EU und keine EZB gehabt, hätten wir in Europa eine Wirtschaftskrise erlebt, die einen weitaus größeren Schaden angerichtet hätte als der „schwarze Freitag“ von 1929. Die 500 Millionen Europäer solidarisierten sich und wehrten die Finanzkrise aus den USA erfolgreich ab.

Die Wirtschafts- und Währungsunion brachte aber noch andere Freiheiten, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die bis heute zu immer mal wieder größeren Aufregungen führte, besonders und gerade nach der Osterweiterung der EU 2004 und 2007. Es wurde die Ausnahmeregelung „2-3-2-Formel“ eingeführt. Deutschland nahm denn auch mit Österreich das Recht in Anspruch, die aus dem Osten kommenden Arbeitnehmer 7 Jahre von ihren Arbeitsmärkten fern zu halten. Trotz allem hatte auch Deutschland und Österreich der Osterweiterung zugestimmt. Ein einfaches NEIN der beiden vorgenannten Länder hätte die Osterweiterung unmöglich gemacht.

Am 31.12.13 liefen alle Fristen ab, so dass Bulgarien und Rumänien jetzt auch die volle Freizügigkeit genießen. Beide Länder sind jedoch die ärmsten Länder in der EU. Wie vorauszusehen war, haben wir nunmehr das Problem der Freizügigkeit in Deutschland und Österreich obwohl nicht mehr Arbeitnehmer aus dem Osten in die Länder kamen. Aber auch hier wurden handwerkliche Fehler sichtbar. Unverständlich, zumal alle Regierungschefs ihre Fachbeamten zu den jeweiligen Sitzungen nach Brüssel mitbringen, denn es soll ja entschieden werden.

 

  • Kindergeld

Das Prinzip, wenn Leistungen eines Staates vorhanden sind, gelten die auch für die in diesem Staat vorhanden EU Ausländer, also für alle EU Bürger. Das gebietet die gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion, die auch die Deutschen wollten. Konkret: Wenn ein EU Bürger in Deutschland ist hat er auch ein Recht auf Kindergeld. Das Kindergeld bezieht sich nach dem Gesetz nur auf die Kinder, es ist egal wo sich ein Kind befindet. Beispiel, EU Eltern arbeiten als Spargelstecher in Deutschland, die Kinder sind bei der Oma in irgendeinem EU Land. Somit gibt es Kindergeld solange hier gearbeitet wird. Aber es gibt das Kindergeld auch, wenn die Eltern in Deutschland nicht arbeiten oder weiter gehend, es in dem anderen EU Land kein Kindergeld gibt. Ungerecht? Nein, wenn sich unsere Regierung was dabei gedacht hat, denke ich nicht. Nur unsere nationale Regierung äußert sich ja nicht, abgesehen davon macht sie ja keine Fehler. Eine Besonderheit von Fehlleistungen der 28 EU Nationen stellt die Problematik der Sinti und Roma dar. Immer wieder werden hier die bestehenden Problem der EU Brüssel angelastet um von dem eigenen Versagen abzulenken. Einmal sind die Sinti und Roma mehr oder weniger Asylanten und auf der anderen Seite kommen sie aus einem der 28 EU-Staaten. Welchen Status die Sinti und Roma bekommen ist manchmal verwunderlich. Letztendlich ist dieses Problem ein reines europäisches Problem, denn die Gebiete wo die Sinti und Roma herkommen befinden sich alle in Europa. Lösungen wurden in Brüssel erarbeitet, nur sie müssen auch von den Regierungschefs umgesetzt werden.

 

  • Aufenthaltsrecht

Es gehört zur Freizügigkeit der EU, ArbeitnehmerInnen können überall in der EU einen Arbeitsplatz suchen und auch annehmen. Im Gewerbebereich hat jeder EU Bürger Niederlassungfreiheit. Das hört sich gut an, in der Praxis waren jedoch ein paar Fehler sichbar geworden.

Wenn aus einem anderen EU Land ein Arbeitnehmer in einem anderen EU Land eine Stelle sucht und nicht findet, haben alle EU Staaten ein Problem. Irgendwann sind evtl. die finanziellen Reserven aufgebraucht und dieser Arbeitnehmer versucht über die Sozialsysteme seinen Lebensunterhalt zu sichern. Hat er eine gewissen Zeit in dem Land gearbeitet und in die Sozialsysteme eingezahlt, so wird er auch einen Beitrag zu seinem Lebensunterhalt aus den Sozialkassen bekommen. Ist das aber nicht der Fall steht er ohne auf der Straße. Der Gaststaat tut so als wenn er nicht da ist.

In der Regel passiert jetzt folgendes – der Arbeitssuchende wird versuchen sich am Arbeitsmarkt als Tagelöhner mit ganz niedrigen Hungerlöhnen zu verdingen um die Zeit zu überbrücken. Das geht eine kurze Zeit gut, dann wird er entweder obdachlos oder er rutscht ab in die Beschaffungskriminalität. Wo ist jetzt das Problem? Nun, er ist mittellos und ist nicht in der Lage die Heimfahrt zu finanzieren. Die Jobcenter oder Sozialämter können diesen Leuten keine Fahrkarte geben, weil die gesetzliche Grundlage fehlt. Bei den afrikanischen Flüchtlingen ist es da einfacher, die werden in einen Flieger gebracht und auf Staatskosten mit Begleitung nach Hause gebracht.

 

Beide Problemfelder sind Konstruktionsfehler der nationalen Staaten. Die Lösung wäre Brüssel. Denn Brüssel könnte zentral die in den 28 Einzelstaaten aufgetretenen Probleme vereinheitlichen und von dort auch die Umsetzung betreiben. So bekämen die Eltern ihr Kindergeld und die Arbeitnehmer ohne Arbeitsstelle würden wieder in ihre Heimatländer verbracht. Nur, das wollten die 28 EU Staaten nicht, sie wollten die Entscheidung in ihrem Machtbereich belassen.

 

Noch ein Wort zum Vorwurf über die „Regulierungswut“ der Brüsseler Administration. Die EU hat 28 Staaten und jeder dieser Staaten hat „Anspruch“ auf einen Kommissar in der Kommission. Selbstverständlich bekommt der Kommissar in der Kommission ein Büro mit Personal und ein Aufgabengebiet. Und das schafft Verordnungen und Regeln ohne Ende. Nur die Kommissare werden vom Rat, also wieder den Regierungschefs, eingesetzt.

 

Im Grund stehen die Parlamentarier des europäischen Parlaments immer außen vor und dienen der Kommission und dem Rat als Ideengeber und Problemlöser. Eine starke Position hat in diesem Spiel der Parlarmentspräsident, z.Zt. der deutsche Martin Schulz (SPD), sein Vorgänger war der Pole Jerzy Buzek (PO), beides Präsidenten des Ausgleichs, die sich nie gegen den Rat stellen würden. Beide wirken aber motivierend auf die Mitglieder des Parlaments ein. Und so kann man den Parlamentariern der EU eine gute handwerklich politische Arbeit attestieren.

Sie sind es, die Europa nach vorne bringen, die Europa leben, mit ihnen macht Europa Sinn. Wenn man einmal erlebt hat wie 4 – 5 Personen aus unterschiedlichen Staaten in den Ausschüssen über eine Sache diskutiert haben und letztendlich zu einem positiven Ergebnis kamen, geht man mit einem gewissen Stolz auf Europa aus dem Ausschusssaal.

Und deshalb sollte es für jeden überzeugend sein die 96 deutschen Abgeordnete für das europäische Parlament am 25. Mai 2014 zu wählen. Europa ist nirgendwo ein Problem, Europa ist die Lösung.

Schlussendlich muss man noch anmerken, viele Rechtspopulisten wollen ihr nationales Süppchen wieder kochen, aber auch unser westlicher Verbündete, die USA, steht der EU misstrauisch gegenüber. Denken ist Gott sei Dank noch nicht verboten. Wenn man etwas negatives über Brüssel erzählt sollte man immer an den römischen Staatsmann Cicero denken, der mit seinem Ausspruch „cui bono“ eine Verteidigungsrede verstärkte. Cui bono, wem nützt dieser vorgebrachte Sachverhalt? Europa braucht jedoch nicht nur Wähler, Europa braucht Menschen die sich für die europäischen Werte einsetzen. Der Jugendaustausch, der Studentenaustausch, die Städtepartnerschaften oder auch der Kulturaustausch, dies alles ist möglich um zusammen zu rücken, voneinander zu lernen oder aber nur mitzumachen.

 

Es ist unser und Ihr Europa, fühlen Sie sich angesprochen!

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Brüssel.