Vorstellung des Kulturprogramms 2016 Foto: Linde Arndt
[jpg] Als im vorigen Jahr die Kriegsflüchtlinge zu uns kamen, waren einige nette Zeitgenossen sofort dabei die Obergrenzen festzulegen. Wobei, Obergrenzen wurden nie konkretisiert; denn mit einem einzigen Kriegsflüchtling waren diese Zeitgenossen schon überfordert. Ach ja, und das mit den Obergrenzen, wie hoch sollten die sein, wer sollte das bestimmen und wie sollten die auf die Länder verteilt werden. 21% der Kriegsflüchtlinge sollte NRW aufnehmen, aufgenommen hat NRW jedoch 31% wobei die kleinen und mittleren Städte mehr als die großen aufnahmen. Hörte man aus NRW Gejammere wie in Meck-Pom oder Bayern? Nein.
Tausende ehrenamtliche Helfer kümmerten sich rührend um die angekommenen Kriegsflüchtlinge. Sie haben das gemacht was notwendig war und ist, sie haben pragmatisch geholfen, ohne wenn und aber. Politik und Verwaltung sind bis heute nicht in der Lage ein umsetzbares Integrationskonzept aufzustellen, welches ein koordiniertes Arbeiten möglich macht. Sah man die Ehrenamtlichen nicht in der Öffentlichkeit, so sah man Politiker mit „guten“ Ratschlägen, die damit den Ehrenamtlichen teilweise in den Rücken fielen.
Politiker aus der gesamten politischen Farbenlehre nutzten die Stunde, um sich auf Kosten der ehrenamtlichen Helfer zu profilieren oder wie in anderen Fällen Ängste zu schüren. Erreicht wurde, dass ein gestiegenes tiefverwurzeltes Misstrauen gegenüber Kriegsflüchtlingen und alles Fremde zu beobachten ist. Dabei sollte man von einem Exportweltmeister Deutschland, der seine Waren bis in den letzten Winkel unseres Erdballs vertreibt, eine gewisse Offenheit erwarten.
Nein so nicht, klingt es von einem Chor, der in seiner Zusammensatzung bis dato nicht für möglich gehalten wurde.
Da hört man die AfD mit Frauke Petry oder Beatrix von Storch und von der CSU Horst Seehofer mit Markus Söder aber auch die CDU mit Wolfgang Bosbach oder Julia Klöckner (Wahlkampfbedingt) und der FDP-Vorsitzender Christian Lindner stimmt voll damit ein, in den Chor der Angsthasen.
„Deutsche Kultur und Werte erhalten – Merkel entthronen“ so war auf einem Schild zu lesen, welches ein Demonstrant der Bundeskanzlerin entgegenhielt. Was auch immer in diesem Zusammenhang gesagt wurde, die Botschaft der Politik lautete: Weg mit den Kriegsflüchtlingen! AfD und die Konservativen unterschieden sich nur dadurch, dass die AfD Spitze schon mal auf Frauen und Kinder schießen wollen, wenn es gar nicht anders geht. Und dem FDP Vorsitzenden Christian Lindner fiel nur die Anpassung ein, die die Kriegsflüchtlinge zu leisten hätten.
Bei all´dem Hickhack der politischen Hysterie, kommt dann doch in einer ruhigen Minute die Frage auf: Was bitte versteht Politik und Gesellschaft unter,
„Deutscher Kultur und deutschen Werten?
In Gevelsberg, wo eine recht rührige Bürgergesellschaft zu bewundern ist, wurde das Kulturprogramm 2016/2017 von Bürgermeister Claus Jacobi, Abteilungsleiterin für Kultur, Sport und Schulverwaltung, Bettina Bothe und Sylvia Korte, vorgestellt. Bei allen drei hatte man den Eindruck, man müsse nur das Etikett Kultur verwenden und dann hat da auch Kultur drin zu sein.
Programm 2016/17 Stadt Gevelsberg
In diesem Programm finden sich viele nette und sicherlich unterhaltsame Veranstaltungen, was wir ausdrücklich hiermit bestätigen. Das geht von einer Schlagerrevue über eine Komödie bis hin zum Kabarett. Zum nachlesen und evtl. Vormerkung hier der Link zum Gevelsberger Kulturprogramm 2016/2017 .
Ist das nun die vielseitig reklamierte „Deutsche Kultur“? Vielleicht noch eine Kirmes, ein paar Bekleidungsvorschriften und die Arbeitskultur dazu vermengt und fertig ist die deutsche Kultur?
Der Gevelsberger Bürgermeister Jacobi, und damit steht er stellvertretend für alle lokalen Entscheider, findet es ist ein gelungenes Programm, zumal sich die Kosten für die Stadt in Grenzen halten.
Nun gibt es in Gevelsberg viele Gruppen die schon die Kultur in Summa darstellen könnten. Nur, und das ist das Problem, wie soll sich ein Fremder, zumal aus einem anderen Kulturkreis, sich die kulturellen Erscheinungen, Traditionen oder Werte aneignen, wenn sie nicht gegenüber der eigenen Kultur angeeignet werden können oder in der eigenen Kultur sogar verboten sind? Beispiel: Das Berührungsverbot in der islamischen Kultur. Kulturen und Werte wandeln sich, was gestern noch in Ordnung war, ist heute vielleicht verpönt.
Der Bürgermeister von Gevelsberg und die in anderen Städten lehnen es ab einen Interessenausgleich zwischen den Kulturen zu erarbeiten. Sie fordern die deutsche Kultur ein, sehen dabei aber nicht das prozessuale der Kultur, sowohl der eigenen als auch der fremden. Obwohl anerkannterweise Kulturen sich annähern und einen Ausgleich fordern und auch immer gefunden haben.
164 verschiedene Kulturdefinitionen gibt es laut Alfred Kroeber und Clyde Kluckholm, die 1952 diesbezügliche Untersuchungen (Culture; a critical review of concepts and definitions) gemacht haben. Später wurden diese Definitionen durch Prof.Dr. Andreas Reckwitz typologisiert (Typologie des Kulturbegriffs 2000)
Und die Werte, die von vielen populistischen Politikern beschworen werden? Sie gehören zum Kontext des Kulturbegriffs oder ergeben sich aus der Kulturdefinition. Nur einfach Kultur zu fordern und nicht zu sagen, was Kultur leistet, dass geht nicht.
Pierre Félix Bourdieu, ein einflussreicher französischer Soziologe und Sozialphilosoph des 20.Jahrhunderts, schreibt denn auch:
„Kultur“ ist kein harmloses Konzept eines harmonischen Miteinanders, sondern gelegentlich konfliktreiches Aufeinandertreffen unterschiedlicher Milieus und Lebensstile. Diese wiederum werden sehr unterschiedlich gesellschaftlich anerkannt und bewertet.“
Also keine heile Welt!
Und zu guter Letzt möchte ich Alfons „Fons“ Trompenaars zitieren, der ein recht anschauliches Bild von Kultur gezeichnet hat.
„Ein Fisch spürt erst dann, dass er Wasser zum Leben braucht, wenn er nicht mehr darin schwimmt. Unsere Kultur ist für uns wie das Wasser für den Fisch. Wir leben und atmen durch sie.“
Im Grunde genommen muss sich der deutsche Politiker erst einmal bewusst werden, was er selber unter deutscher Kultur versteht und nicht die Kriegsflüchtlinge auffordern in einem Ratekurs die Inhalte einer deutschen Kultur zu erraten.
Dieser kleine Ausflug in die Definitionen von Kultur und Werten, soll verdeutlichen, dass es fast unmöglich für einen Migranten (besser die alte Bezeichnung Allochthonen) ist, sich der fremden Kultur zu nähern, wenn nicht die Gesellschaft einen transparenten kulturellen Dialog in Szene setzt.
Aus einer reinen Unterhaltungskultur können wohl kaum kulturelle Parameter von den Einwanderern abgeleitet werden, deshalb die vielen Parallelwelten in den Städten, die sich aus einer falschen Kulturpolitik ergeben haben, jetzt führen diese immer wieder zu sozialen Spannungen und Krisen. So hätten die türkischstämmigen Mitbürger sich nicht einvernehmlich für ihren Präsidenten Erdogan eingesetzt, wenn die deutsche Demokratie nicht so ein desolates Bild abgeben würde. Auch das ist Kultur und läuft unter Demokratieverständnis.
Finanziell ist auf kommunaler Ebene auch nicht alles geregelt; denn Bund und Länder haben keine Eile die Probleme, die mit den Kriegsflüchtlingen entstanden sind, schnellstens zu regeln. Man hat Zeit, die Flüchtlinge können ja erst einmal gelagert werden. Und die Kultur? Na ja, Sprachkurse reichen ja wohl – erst einmal.
Und dann ist da noch das deutsche Volk der Angsthasen, die immer wieder betonen, wie schlimm doch alles in Deutschland geworden ist, seit es die vielen, vielen Kriegsflüchtlinge gibt. Und diese Ängste werden von AfD, Pegida bestärkt und von den etablierten Parteien bestätigt. Deutschland auf dem Therapiesofa. Sorry, nicht ganz Deutschland. Und Merkel ist an allem Schuld.
Dabei hatte doch Gevelsberg die Probleme die mit den Kriegsflüchtlingen entstanden waren sofort erkannt, Bürgermeister Jacobi sammelte Gelder für Sprachkurse ein, die von Frau Beinert organisiert wurden. Dann kippte die Stimmung und niemand traute sich mehr offen über Kriegsflüchtlinge zu sprechen. Nur die Kriegsflüchtlinge sind noch da. Jedoch müssten schon länger die notwendigen Weichen für eine einigermaßen gelungene Integration gestellt werden. Kultur und Werte. Es reicht nicht über christliche Werte zu reden um die Überlegenheit des Christentums herauszukehren, man muss diese Werte auch umsetzen. Vielen dieser Sprachkünstler sollte man zurufen, lest doch erst einmal die „Bergpredigt“ des Matthäusevangeliums (Mt 5-7).
Kultur, und zwar nicht nur die eigene Kultur, ist und kann mehr als nur unterhalten. Wenn die Politik sich mehr um den kulturellen Bereich kümmern würde, würden viele gesellschaftlichen Probleme, die in der Regel der Gesamtwirtschaft sehr viel Verdruss bereiten, im Ansatz gar nicht erst entstehen. Was ist mit der Bildung, die auch zur Kultur gehört?
Wie ist es in den Städten des Südkreises bestellt?
Ennepetal möchte erst einmal wissen, was Kultur sein soll und hat eine bayrische Firma beauftragt, ihr dies darzulegen. Ansonsten, kauft man Unterhaltungskultur ein um sie den Ennepetalern als Kultur zu verkaufen.
Anders die Gevelsberger, die viele Kulturschaffende in ihren Reihen haben, was fehlt ist eine thematische Vernetzung und klare kulturelle Zielsetzung.
Die Schwelmer haben Kultur als umfangreiche und vielfältige Unterhaltung definiert, wer will kann in Schwelm Unterhaltungskultur organisieren. Wobei das Heimatfest als herausragendes Kulturereignis der Unterhaltungskultur, alle anderen Ereignisse überschattet.
Kommen wir zu der Ausgangsfrage, die sich für jeden stellt der Deutschland aufsucht, der Frage nach:
„Deutscher Kultur und deutschen Werten?“
Wenn man diese Frage ernsthaft stellt und eine ernsthafte Antwort erwartet, so ist jede gesellschaftliche Partei überfordert. Letztendlich wird man mit den vielen Klischees oder Stereotypen sich zufrieden geben müssen. Die Frage ist dabei: Wollen wir das? Ich für meine Person möchte nicht als Egoist oder Kraut (Sauerkrautesser) wahrgenommen werden. Ich möchte aber auch nicht einer rosaroten heilen Welt Vorschub leisten, die letztendlich in die Irre führt und Erwartungen weckt, die niemand befriedigen kann.
Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Gevelsberg