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Alle staatlichen Institutionen von Brüssel bis auf die Regionen haben versagt!


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Hat der Staat sich verabschiedet?

 

[jpg] Keine Sorge, der Staat mit seinen Institutionen ist noch vorhanden. Aber, er, der Staat funktioniert nicht mehr zur Gänze. Sicherheit, Subsidiarität , Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde oder Menschenrechte sind die Werte die demokratische Staaten garantieren. Das Gleiche gilt für die Europäische Union, die, so steht es auf ihren Fahnen, eine Wertegemeinschaft sein will.

Nur was sind die Werte eines Staates oder einer Staatengemeinschaft wert, wenn sie nicht belastbar sind? Wenn die Werte belastet werden und die Verantwortlichen sich in die Büsche schlagen und dort erst wieder herauskommen, wenn keine Gefahr mehr droht? Denn die gewählten Vertreter und die Verantwortlichen sollen ja diese Werte mit der gesamten Staatsgewalt garantieren, so das Grundgesetz. Was nützt also die Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde oder was Menschenrechte wenn diese vom Staat nicht durchgesetzt werden können?

Es geht einmal mehr um die Flüchtlingspolitik, in der EU der 28 und damit auch in Deutschland.

2013 fand eine Zäsur statt, die das Flüchtlingsproblem in einen dringlichen Rahmen stellte. Vor Lampedusa ertranken hunderte Flüchtlinge die mit Booten über das Mittelmeer gekommen waren. Es folgten große Versprechungen der Entscheider in Brüssel und Berlin, doch nichts geschah. Dies sollte sich als eine sträfliche Vernachlässigung des Problem herausstellen.

Die Griechenland Finanzkrise kam auf die Agenda der 28 EU Staaten. Fast täglich gab es neue „Wasserstandsmeldungen“ und Treffen oder Gipfel unterschiedlicher Gremien in Brüssel. Dabei hatte die EU doch erst die Ukraine Krise, die in einen Krieg mündete der noch heute anhält, auf erträglicher Flamme verhandelt. Auch hier Treffen unterschiedlicher Qualität ohne Ende. Probleme gelöst? Nein, nur Probleme auf ein erträgliches Maß (Für wen auch immer) heruntergeredet (-verhandelt).

Parallel liefen die Kriege und bewaffneten Konflikte in Nordafrika mit Beteiligung des Westens, die Konflikte Libyen, Syrien oder auch Mali und Eritrea. Sie  schafften Flüchtlingsbewegungen in nie geahntem Ausmaß. Jordanien, Libanon, Türkei oder Kenia (Lager Dadaab) nahmen Millionen an Kriegsflüchtlingen auf. Versorgt wurden die Flüchtlinge von der UNO-Flüchtlings- und Kinderhilfe – UNHCR oder UNICEF.

Nochmals muss man darauf hinweisen, die bewaffneten Konflikte wurden allesamt vom Westen und damit auch von der EU der 28 befeuert.

Menschen auf der Flucht  Foto: (c) UNHCR / T.W. Monboe

Menschen auf der Flucht Foto: (c) UNHCR / T.W. Monboe

Um die Flüchtlinge aber von Europa fernzuhalten, schaffte man mittels der UNHCR riesige Flüchtlingscamps mittels Container oder Zelten. Anfangs bekam die UNO auskömmliche Gelder die die Grundversorgung mit Nahrung, Kleidern und Wasser auf niedrigem Niveau sicherstellte. Bildung oder Ausbildung war dabei nicht vorgesehen. Die finanziellen Zuwendungen der Staaten wurden jedoch 2014 massiv gekürzt, die Versorgung der Flüchtlinge war und ist bis heute nicht mehr gesichert. Teilweise, wurde die Wasserversorgung in den Lagern abgestellt. Dieser Zustand dauert noch heute an.

Wen wundert es wenn sich die Menschen auf den Weg machten, anstatt in die Camps zu gehen oder in diesen zu verbleiben.

 

Überleben war angesagt, nicht kläglich zu verenden.

Vor den „Segnungen“ der Nazis im vorigen Jahrhundert hatten sich auch Millionen Menschen als Flüchtlinge auf den Weg gemacht. Auch nach dem Weltkrieg machten sich Millionen auf den Weg. Die damaligen Flüchtlinge wurden aufgenommen und integriert.

 

Machen wir einen Zeitsprung von drei Jahren.

Die Wege oder Routen sind inzwischen bekannt, es gibt eine Westroute, eine Südroute, eine Ostroute und eine Balkanroute. Die ersten drei Routen gehen alle über das Mittelmeer, die Balkanroute benutzt den Landweg.

 

  1. Zwischenruf-Rechtliche Grundlagen

Es gibt die Erklärung der Menschenrechte, es gibt das Asylrecht und es gibt ein Flüchtlingsrecht. Alle Staaten der 28 EU Länder haben diese Rechte ratifiziert und die EU ist diesen Rechten beigetreten und die assoziierten Staaten haben diese Rechte akzeptiert und durch ihre Parlamente ratifiziert. Mehr noch, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist ein klares und starkes Bekenntnis zu den Rechten der EU-Bürgerinnen und -Bürger.Diese Rechte gelten aber auch für alle BürgerInnen.

Mit Verordnungen und Gesetzen hat sich die EU mit  ihren 28 Staaten auf den Zustrom von Flüchtlingen vorbereiten können. Zu nennen ist der Vertrag von Lissabon, das Schengener Abkommen und das Dubliner Abkommen. Das Prozedere der Verordnungen und Richtlinien wäre demnach, dass die Flüchtlinge die die Mittelmeerrouten benutzen dort versorgt werden wo sie an Land gehen. Analog werden die Flüchtlinge der Landrouten dort versorgt, wo sie die Grenze des Schengenraumes übertreten. Die sogenannten Grenzländer sind nun zu einer umfangreichen Registrierungs- und Erfassungsmaßnahme verpflichtet. Danach werden sie in Auffang- oder Erstversorgungslager verbracht und müssen dort bleiben bis ihre Anträge abschließend bearbeitet sind.

Die Grenzen werden von der europäischen Grenzschutzorganisation „Frontex“ aus Warschau geschützt. Die Seegrenzen zu Italien durch die Operation „Triton“ und die Grenzen im östlichen Mittelmeer durch die „Poseidon Sea“ Operation. Davor wurden Rettungsmaßnahmen, nicht Grenzsicherung, von der italienischen Küstenwache mit der Operation „Mare Nostrum“ durchgeführt. Weil „Mare Nostrum“ zu teuer war, beauftragte die EU „Frontex“ mit einer reinen Grenzschutzoperation die nur ein Drittel der italienischen Operation kostete. Seenotrettung sollte demnach nicht mehr stattfinden, zumindest nicht mehr vordringlich.

 

  1. Zwischenruf: Schlepper
Boat-People auf einem überfüllten Boot. Photo: © UNHC

Boat-People auf einem überfüllten Boot. Photo: © UNHC

In Brüssel erfuhren wir zum ersten mal im Oktober 2013 von diesem Begriff. Fischer vor der italienischen Küste hatten Flüchtlinge aus dem Meer „gefischt“ und an Land gebracht. Die italienischen Behörden sahen dies als Beihilfe zu illegalen Grenzübertritt an. Gleichzeitig unterstellte man den italienischen Fischern den Flüchtlinge als Schlepper geholfen zu haben.

Es war schon ziemlich zynisch wenn ein Fischer einen Menschen vor dem Ertrinken gerettet hatte und ihm  dann der Prozess gemacht werden sollte. Sollten die Fischer die Flüchtlinge sehenden Auges ertrinken lassen?

 

Belastung der EU durch die Flüchtlinge

Die 28 Länder der EU als auch Brüssel wussten also mindestens seit 2013 was auf sie zukam. Flüchtlinge die sich auf den Weg machten, die in ihrer Quantität das Ausmaß einer Völkerwanderung annahm. Völkerwanderung deshalb, weil den Flüchtlingen die Lebensgrundlagen durch den Westen in vielerlei Weise entzogen wurden.

Deutschland wähnte sich auf der sicheren Seite, war es doch durch das Dublin Abkommen geschützt und konnte Flüchtlinge an seine Nachbarn zurück überweisen, da diese ja „sichere Herkunftsstaaten“ waren und sind.

Durch den langsam steigenden Ansturm der Flüchtlinge beginnend in 2013 war schon auszumachen, dass die Mittelmeerstaaten aber auch Ungarn überfordert werden, wenn die Menschen erst einmal ankommen.

Heute in 2015 ist die Menge der Flüchtlinge auf hunderttausende angewachsen und die Zuwachsraten nehmen nicht ab. Deutschland rechnete zuerst mit 450.000, dann mit 800.000 und erst kürzlich wurde die Zahl auf 1 Million erhöht. Wer bietet mehr, könnte man meinen?

 

Keine Bleibe in Syrien Photo: (c)   UNHCR / B. Diab

Keine Bleibe in Syrien
Photo: (c) UNHCR / B. Diab

Zuerst fielen die Schranken bei den Mittelmeerstaaten, wie Italien, Griechenland, Malta und Spanien. Tausende Flüchtlinge landeten zwischen den Touristen die sich an den Stränden sonnten.

Nach anfänglichen Versuchen der Mittelmeer-Behörden die Flüchtlinge gem. den EU Richtlinien zu registrieren, gaben die Behörden auf und ließen die Flüchtlinge weiterreisen. Riesige Fähren brachten tausende Flüchtlinge von den Inseln Kos oder Lesbos auf das griechische Festland. Fast alle Flüchtlinge hatten offensichtlich ein Ziel „Germany“ oder „Merkel“, einige wollten allerdings nach Großbritannien oder Schweden.

Die Mittelmeerländer wollten nicht mehr das Geschäft der Deutschen besorgen; denn Solidarität, mit dem für sie riesigen Problem, hatten sie vergebens eingefordert. Die staatlichen Institutionen der Mittelmeerländer meldeten sich ab und schalteten in den Standby-Modus.

Ob in Italien oder in Griechenland, überall campierten die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland auf den Straßen und den öffentlichen Gebäuden.

Anders die Balkanroute. Ungarn wusste überhaupt nicht mit den Flüchtlingen umzugehen, Angst und Hysterie zeigten sich in den Reaktionen der ungarischen Institutionen. Teilweise wusste man die Flüchtlinge nicht mit Trinkwasser zu versorgen. Premierminister Viktor Orbán brachte es als erster in Brüssel auf den Punkt, indem er sagte: Wir haben kein europäisches Problem, sondern ein deutsches Problem. Orban floh in Aktionen, die man nur als hilflos bezeichnen kann, er baute Zäune an seiner Grenze. In seinem Land gab es Knüppel, Wasserwerfer und Pfefferspray. Auch Mazedonien versuchte mit Knüppeln und Pfefferspray die Flüchtlinge vor dem Übertreten der Grenze abzuhalten. Umsonst, die Völkerwanderung bewegte sich weiter. Wie die Situation im Mittelmeer schon zeigte, die Flüchtlinge hatten nichts mehr zu verlieren.Nachdem der Zaun fertig gestellt war, machte sich die Völkerwanderung über Kroatien auf dem Weg.

Die Wende brachte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die anordnete, sämtliche Flüchtlinge nach Deutschland durch zu lassen.

Die Folge. Der gesamte Flüchtlingsstrom ergoss sich nun mehr über Deutschland. Grenzkontrollen wurden an den Außengrenzen Deutschlands wieder eingeführt. Das reinste Chaos tat sich auf. Dublin oder Schengen waren nur noch Städte in Europa, die Abkommen waren perdu. Die Freizügigkeit in Europa, ein Herzstück im europäischen Haus, war gestorben und der Beliebigkeit ausgesetzt.

 

  1. Zwischenruf: Deutschland entscheidet – endlich

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich entschieden hatte die Flüchtlinge durchzulassen, waren 4 Wochen und je nachdem wie man es betrachtete fast 2 Jahre der Untätigkeit vergangen. Auch das zuständige Innenministerium unter Dr. Thomas de Maizière war auf Tauchstation. Thomas de Maizière ging sogar noch weiter und pochte auf Einhaltung der Dublin Verträge, die Deutschland die Flüchtlinge vom Hals hielt. Die deutsche Regierung lenkte vom eigentlichen Problem ab, indem sie die Schleuserproblematik ins Spiel brachte. Und über Ursachen wollte man überhaupt nicht reden, ja, man nahm sie noch nicht einmal zur Kenntnis.

Aktuell ist der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt zurückgetreten – ein Bauernopfer für das angerichtete Chaos.

In Brüssel wurde mehr zaghaft nur über eine Lösung beraten – die Quotenregelung. Die ist ja nichts anderes als die föderale Verteilung die  schon in  der Bundesrepublik schlecht praktiziert und schlecht gelitten wird. Unabhängig davon war durch die Frontex Operation auch der erste Tote zu beklagen indem ein 17-jähriger Flüchtling in der Ägäis getötet wurde. Andere Regelungen, wie man die „Völkerwanderung“ in den  Griff bekommen könnte, wurden nicht einmal erwähnt. Neuerdings soll die Bundeswehr mit 950 Mann die Schleuserboote mit Waffengewalt bekämpfen . Ein Irrsinn mit Toten? Der heutige Stand: 130.000 Flüchtlinge sollten über die 28 Länder nach einem Schlüssel verteilt werden. Nur es sind Millionen auf dem Weg. Da müsste schon mal eine europäische Einwanderungspolitik zumindest angedacht werden. Da müssten schon einmal Ursachenbekämpfungen auf die europäische Agenda. Wie wäre es wenn zumindest die Gelder an die UNHCR überwiesen werden, damit die Grundversorgung der Flüchtlinge in den Lagern gewährleistet wird?

 

  1. Zwischenruf: Was soll mit den Flüchtlingen passieren?
Soweit die Füße tragen Photo: (c) © UNHCR/B.Betzelt

Soweit die Füße tragen
Photo:  © UNHCR/B.Betzelt

Die Millionen von Flüchtlingen die auf dem Weg sind, sind Menschen, die es verdient haben würdevoll behandelt zu werden. Es waren ehrenamtliche Europäer in Budapest, Athen, Rom, Kos, Lesbos, München und Düsseldorf, die gezeigt haben, was Menschlichkeit in Europa bedeutet.

Sie haben zugehört, sie haben sich zugewendet, haben Wasser, Brot oder Suppen gereicht, sie haben gelächelt, haben berührt und wurden berührt. Nur, dies alles sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass der Staat abwesend ist. Und das ist jetzt ein Riesenproblem! Denn die Flüchtlinge sind keine Hütchen in einem Spiel, dessen Spielregeln recht fragwürdig sind. Da ist das sehr große Problem der Integration ( Nicht Assimilation ) und das unbekannte Problem der vorausschauenden Hilfsleistungen.

Die Ehrenämtler verfügen nicht über die Institutionen. Sprachkurse müssen zur Zeit über Sponsoring nur unzureichend betrieben werden. Verständnis für die andere Kulturen muss geübt werden, dies kann aber doch nur über Kommunikation laufen. Was ist mit Ausbildung, was mit Bildung? Programme und Projekte müssen her, die nicht nur über viele bunte und nette Flyer ein Problem beschreiben aber nicht mit den Adressaten arbeiten wollen. Was ist mit den Jugendlichen die aus sicheren Herkunftsländern kommen? Sicher sie müssen wahrscheinlich zurück. Aber können wir ihnen hier nicht eine brauchbare Ausbildung zukommen lassen? Dazu braucht es aber wieder Programme, dies können die Ehrenämtler nicht leisten. Die Institutionen von Berlin bis in die lokale Ebene leisten es sich Wunschdenken zu kommunizieren, anstatt sachlich an den Problemen zu arbeiten. Abgesehen davon, dass die Ehrenämtler im „Feuer“ stehen und die Institutionen in Kauf nehmen, dass die Ehrenämtler sich mit einem Burnout-Syndrom verabschieden. Verantwortung sieht anders aus. Wo sind die großen Häuptlinge aus Politik und Verwaltung die überzeugend führen?

Kommen wir zum Schluss. Ob nun die EU oder die Einzelstaaten der EU, alle haben kläglich versagt! Die Frage ist doch, befinden wir uns alle auf einem Weg auf dem der Staat sich verabschiedet hat und der Demos seine Belange wieder selber erledigt? Müssen wir uns anders organisieren, weil unsere politische und administrative  Organisation nicht mehr zeitgemäß ist?

Den Völkern Europas und der EU war es, im Gegensatz zu den Regierenden,  noch nie egal ob im Mittelmeer Menschen ertrinken. Oder ob an den Grenzen Mazedoniens, Ungarns oder anderer europäischer Staaten Menschen mit Knüppeln, Schüssen, Pfefferspray und auf messerscharfen Drahtverhauen empfangen werden. Auch sollen Menschen nicht im Dreck und ungeschützt irgendwo stranden. Die 507 Millionen Europäer schämen sich für solche Handlungsweisen.

Hilfe durch die UNHCR  Photo: (c) UNHCR / B- Kouane

Hilfe durch die UNHCR Photo: (c) UNHCR / B- Kouame

Deshalb ist es Zeit, dass die staatlichen und überstaatlichen Institutionen und Organe endlich das tun wofür wir sie verpflichtet sahen, sich um die Flüchtlinge kümmern und zwar würdevoll. Tausende Tote im Mittelmeer, im Atlantik oder auf dem Festland, sind tausende Tote zuviel. Jeder Tote zählt, nicht nur der kleine dreijährige Junge, der Aylan Kurdi hieß. Kurdi wurde an die Küste gespült, wie ein Stück Holz oder Abfall oder abgelassenes Öl, es war aber ein Menschenkind, dass durch unser Tun gerettet werden konnte.

 

„Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist, da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise, dort, wo der Staat aufhört,“ so der Philosoph Friedrich Nietsche. Deshalb sollten wir, die nicht zu den Überflüssigen gehören den Staat abmahnen oder an einer weitergehenden Ordnung arbeiten.

 

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik und european-mosaic aus dem EN-Kreis

 


Wir danken der UNHCR für die zur Verfügungstellung des Bildmaterials.

 

 

 


 

Was sind die europäischen Werte nur wert?

Flüchtlinge auf dem Mittelmeer  Foto: © Graphies.thèque

Flüchtlinge auf dem Mittelmeer Foto:Fotolia © Graphies.thèque

[jpg] 25.000 Menschen sollen im Mittelmeer seit 1990 ertrunken sein. Jahr für Jahr wurden die Ertrunkenen gezählt, soweit man sie aus dem Meer „fischen“ konnte. Eine Kehrtwende sollte das Jahr 2013 bringen. Am 3. Oktober 2013 war ein Schiff mit etwa 500 Flüchtlingen vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa untergegangen. 150 Boatpeople, vorwiegend aus Eritrea und Somalia konnten die Italiener retten. 200 Boatpeople wurden danach in Särgen, unter anderen Kinder, in einer Halle aufgereiht, die restlichen Boatpeople werden bis heute vermisst.
Die italienischen Fischer trauten sich nicht die in Seenot geratenen zu retten, weil ihnen Strafen für Menschenhandel angedroht wurden.
Italien, Malta, Zypern und Griechenland stritten um die Zuständigkeit der Seenotrettung. Denn wer die Seenotrettung ausübt ist auch zuständig für das Asylverfahren, die erkennungsdienstliche Bearbeitung der Flüchtlinge und letztendlich für deren Unterbringung, Versorgung und evtl. für deren Rückführung in ihre Heimatländer. Brüssel ließ die Mittelmeeranrainer mit diesen Problemen alleine.
Aber, wie gesagt, 2013 sollte die Wende sein. Die Bürgermeisterin von Lampedusa Giusi Nicolini, schrieb einen Brief an die EU in Brüssel in

Parlamentspräsident Martin Schulz  Foto: Linde Arndt

Parlamentspräsident Martin Schulz
Foto: Linde Arndt

der sie die Frage stellte:“Wie groß muss der Friedhof meiner Insel noch werden?“ Der Brief endete mit einem Apell nach einer Asyl- und Flüchtlingspolitik, die der EU und den Menschen ihre Würde gibt. Giusi Nicolini durfte denn auch ihr Anliegen mit dem Präsidenten der Region Sizilien, Rosario Crocetta, vor der Kommission und dem Rat Ende Oktober 2013 vortragen. Die Kommission war sichtlich betroffen, weil Nicolini als auch Crocetta mit ihren Emotionen sich kaum zurück halten konnten. Der Premierminister von Malta, Joseph Muscat, wollte das Mittelmeer nicht als Friedhof gesehen wissen. Parlamentspräsident Martin Schulz und Kommissionspräsident Mario Barroso versprachen Abhilfe. Barroso reiste denn auch nach Lampedusa um die Zustände zu besichtigen, wobei die damalige zuständige Flüchtlingskommissarin Cecilia Malmström nur Absichtserklärungen abgab, das Problem aber nicht löste.

Dimitris Avramopoulos  Foto: European Commission press service

Dimitris Avramopoulos Foto: European Commission press service

Heute soll der neue Kommissar Dimitris Avramopoulos den Flüchtlingskarren flott machen.
Zu guter Letzt hob die italienische Regierung das Projekt „Mare Nostrum“ aus der Taufe, ab Oktober 2013 sollten die Marineeinheiten die in Seenot geratenen Flüchtlinge frühzeitig aufnehmen. 130.000 Menschen wurden so 2013/2014 gerettet. Mare Nostrum wurde dann aber aus vielen Gründen beendet. Einesteils wollte die EU den Italienern ( Aber auch den anderen Mittelmehranrainer) nicht beistehen und andererseits geriet die italienische Regierung innenpolitisch unter Druck wegen der Kosten.
So wurde von der EU Kommission die Operation Triton durch der EU-Grenzschutzagentur Frontex ins Leben gerufen. Dies hatte EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström dem italienischen Innenminister Alfano am 27. August 2013 zugesichert. Kontrolle und Abwehr standen nun im Fordergrund, Rettung war nebensächlich. Statt 9 Millionen Euro wurden nun 2,8 Millionen Euro monatlich eingesetzt – mehr war nicht drin. Wobei die technischen Ressourcen, wie Schiffseinheiten, durch die Mittelmeeranrainer gestellt werden sollten. Bis heute wurden die gemachten Zusagen, eine belastbare Lösung des Flüchtlingsproblems herbeizuführen, nicht umgesetzt. Auch das Einsatzgebiet wurde verkleinert. Nicht mehr bis an die Grenzen des afrikanischen Kontinents, sondern nur noch in einem 30 Km Umkreis vom Festlandsockel der EU Mitgliedsländer.
Wieder wurden rund 3.500 Ertrunkene an den Küsten aufgesammelt, denn die Seenotrettung stand ja jetzt nicht mehr im Vordergrund.

Und die angekündigte gemeinsame EU Flüchtlingspolitik? Sie stellte sich als eine Kakophonie von Abwehr und Absichtserklärungen dar. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière brachte in einer Äußerung die Konsequenz daraus auf einen Punkt: Wenn die Flüchtlinge es bis an unsere Grenzen (Deustsche Grenzen. Anm.der Red.) schaffen, werden wir sehen was wir machen, so der Innenminister. An Zynismus ist dies kaum zu überbieten. Dann kam die Welle von Diskussionen, welches Land wie viel aufnehmen kann. In Deutschland stritten sogar die Bundesländer und die Kommunen. Im französischen Calais bildete sich ein „Dünen-Camp“ in der Industriezone mit Hunderten von Menschen die unter freiem Himmel unter Kartons campieren. Regelmäßig kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Eritreern und Äthiopiern. Eine Hundertschaft der Polizei wurde abgestellt um die Gewalt einzuschränken. Sie leben wie die Tiere, ohne Toiletten, Strom oder Waschgelegenheit, angewiesen auf Menschen die ihnen Nahrungsmittel überlassen. Ständig auf dem Sprung einen Lkw zu entern der sie nach Großbritannien bringt – zu ihrem Ziel.

Die EU Staaten nennen immer wieder absolute Zahlen oder wenn es besser klingt relativen Zahlen, um allen klar zu machen: „Das Boot ist voll“. Politische Entscheidungen oder gar Konzepte, Fehlanzeige.

In der Zwischenzeit starben und sterben jeden Tag Menschen im Mittelmeer, leben Menschen in Kartons auf den Straßen der EU oder unter unmenschlichen Bedingungen in Behausungen. Ein Jahr war vergangen, seit die Bürgermeisterin von Lampedusa Giusi Nicolini ihren Brief veröffentlichte und die Kommission war nicht in der Lage eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen.

Ach Europa, beschwörst du nicht in so vielen (Sonntags) Reden immer wieder deine Wertegemeinschaft? Nur, ein Wirtschafts- und Währungsraum wolltest du nicht sein. Welches sind denn nur die gemeinsamen Werte? Die Werte des Geldes, des Gewinns und des Konsums um jeden Preis?

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO hat Europa unterschrieben, ratifiziert und damit anerkannt. Aber was ist zum Beispiel mit Artikel 3 der Erklärung: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“, um nur einen Artikel zu nennen. Befindet sich dieses Recht in der Abschiebehaft?

Trotz allem wollte die EU Kommission eine gemeinsame Flüchtlingspolitik vorbereiten, die den Werten der EU auch entsprechen sollte. Die nationalen Regierungen im Rat wollten aber augenscheinlich keine gemeinsame Flüchtlingspolitik und bremsten das Vorhaben aus. Hauptsächlich UK, Frankreich und Deutschland wollten dies nicht, ein Freihandelsabkommen (TTIP) versprach mehr Gewinn.
Zynisch wird dieses Flüchtlingskonzept wenn Dublin II und Dublin III, Richtlinien der EU-Kommission, wie mit Flüchtlingen „umgegangen“ werden soll, ins Spiel kommt. Da kommen Menschen bis zu 8.000 km aus Ländern, schlimme Diktaturen, mit denen Europa zusammenarbeitet und die auch noch gefördert werden. Und diese Menschen landen in einer Gefängniszelle um nach einem evtl. dreijährigen Verfahren abgeschoben zu werden.

Viele afrikanische Länder wurden durch die Europäer erst zu dem gemacht, was sie heute sind – Diktaturen, mit Kleptokraten und Oligarchen die das sagen haben. Viele afrikanische Staaten, die sich früher ernähren konnten, müssen heute Nahrungsmittel importieren. Hochsubventionierte Nahrungsmittel werden durch die EU in Afrika eingeführt, so dass die eigene Landwirtschaft nicht mehr mithalten konnte. In der Regel leben die Afrikaner von durchschnittlich 1 Dollar pro Tag. Es leiden über 200 Millionen Afrikaner unter Hunger, Das World Food Programm der UNO kann nicht allen Menschen in Afrika helfen, weil die finanziellen Mittel fehlen. Alleine 6 Millionen Kinder müssen jährlich an Hunger sterben. Und da spricht der Europäer von Wirtschaftsflüchtlingen die nur an unsere Fleischtröge wollen? Wobei alleine die Deutschen bis zu 50% ihrer Nahrungsmittel wegwerfen, teilweise landen die Nahrungsmittel noch nicht einmal in den Regalen, weil sie irgendeiner Norm nicht entsprechen, so die Dokumentation „Taste the Waste“ von Valentin Thurn und das Verbraucherschutzministerium bestätigt das ganze auch noch.

Zurück zu unseren Flüchtlingen die entweder ertrinken müssen, oder, wenn sie Glück haben von einem Schiff der Frontex Operation Triton aufgenommen zu werden, um dann in menschenunwürdigen Verhältnissen in der Regel auf ihre Abschiebung zu warten. Und was macht die EU-Kommission? Es soll nun verstärkt gegen die Schleuser vorgegangen werden. An die Ursache dieser Flüchtlingskatastrophe will man nicht ran, dabei wäre das langfristig der sicherste Weg den Afrikanern eine Perspektive zu schaffen.

Das Flüchtlingsproblem hat 2014/2015 eine neue Dimension angenommen, nicht mehr nur die kleinen Schlauchboote treten die Fahrt über das Mittelmeer an, jetzt werden sogar Schiffe benutzt, die auf irgendeinem Schiffsfriedhof vor sich hin gerostet haben. Es nützt dabei nichts, wenn man nur die Schuldfrage zwischen den einzelnen Institutionen und EU-Staaten hin und herschiebt. Eine Lösung dieses Problems muss geschaffen werden, und zwar schleunigst. Und die Lösung kann nur so aussehen, dass den Afrikanern mit unserer Hilfe in ihren Ländern Perspektiven geschaffen werden, die zum bleiben anhalten. Und zwar nicht auf europäische Art in Nischen kleckern, sondern ein ganzheitliches Konzept muss her.

Dieses ganzheitliche Konzept führt uns direkt zu den Werten für die wir Europäer so gerne eintreten, zum Beispiel dem Solidarprinzip. In diesem Falle könnten die Europäer es sogar beweisen.
Und noch eines sollten unsere europäischen Werte befeuern und zum handeln anhalten, da sind „die namenlosen Flüchtlinge“, die im Mittelmeer begraben liegen. Die EU sollte den Flüchtlingen ihre Würde wieder geben, indem sie zumindest die Namen der Ertrunkenen ermittelt. Und, wie kann die zur Zeit mit hohen moralischen Werten vertretene Ukrainepolitik der EU glaubhaft sein, wenn auf der anderen Seite solch eine menschenverachtende Flüchtlingspolitik der EU Tag für Tag sichtbar wird?
So, sind die gemeinsamen Werte, wenn sie nicht gelebt werden, nur für die Sonntagsreden zu gebrauchen.

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Brüssel