Beiträge

Alle staatlichen Institutionen von Brüssel bis auf die Regionen haben versagt!


4a0168f54-2

 

Hat der Staat sich verabschiedet?

 

[jpg] Keine Sorge, der Staat mit seinen Institutionen ist noch vorhanden. Aber, er, der Staat funktioniert nicht mehr zur Gänze. Sicherheit, Subsidiarität , Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde oder Menschenrechte sind die Werte die demokratische Staaten garantieren. Das Gleiche gilt für die Europäische Union, die, so steht es auf ihren Fahnen, eine Wertegemeinschaft sein will.

Nur was sind die Werte eines Staates oder einer Staatengemeinschaft wert, wenn sie nicht belastbar sind? Wenn die Werte belastet werden und die Verantwortlichen sich in die Büsche schlagen und dort erst wieder herauskommen, wenn keine Gefahr mehr droht? Denn die gewählten Vertreter und die Verantwortlichen sollen ja diese Werte mit der gesamten Staatsgewalt garantieren, so das Grundgesetz. Was nützt also die Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde oder was Menschenrechte wenn diese vom Staat nicht durchgesetzt werden können?

Es geht einmal mehr um die Flüchtlingspolitik, in der EU der 28 und damit auch in Deutschland.

2013 fand eine Zäsur statt, die das Flüchtlingsproblem in einen dringlichen Rahmen stellte. Vor Lampedusa ertranken hunderte Flüchtlinge die mit Booten über das Mittelmeer gekommen waren. Es folgten große Versprechungen der Entscheider in Brüssel und Berlin, doch nichts geschah. Dies sollte sich als eine sträfliche Vernachlässigung des Problem herausstellen.

Die Griechenland Finanzkrise kam auf die Agenda der 28 EU Staaten. Fast täglich gab es neue „Wasserstandsmeldungen“ und Treffen oder Gipfel unterschiedlicher Gremien in Brüssel. Dabei hatte die EU doch erst die Ukraine Krise, die in einen Krieg mündete der noch heute anhält, auf erträglicher Flamme verhandelt. Auch hier Treffen unterschiedlicher Qualität ohne Ende. Probleme gelöst? Nein, nur Probleme auf ein erträgliches Maß (Für wen auch immer) heruntergeredet (-verhandelt).

Parallel liefen die Kriege und bewaffneten Konflikte in Nordafrika mit Beteiligung des Westens, die Konflikte Libyen, Syrien oder auch Mali und Eritrea. Sie  schafften Flüchtlingsbewegungen in nie geahntem Ausmaß. Jordanien, Libanon, Türkei oder Kenia (Lager Dadaab) nahmen Millionen an Kriegsflüchtlingen auf. Versorgt wurden die Flüchtlinge von der UNO-Flüchtlings- und Kinderhilfe – UNHCR oder UNICEF.

Nochmals muss man darauf hinweisen, die bewaffneten Konflikte wurden allesamt vom Westen und damit auch von der EU der 28 befeuert.

Menschen auf der Flucht  Foto: (c) UNHCR / T.W. Monboe

Menschen auf der Flucht Foto: (c) UNHCR / T.W. Monboe

Um die Flüchtlinge aber von Europa fernzuhalten, schaffte man mittels der UNHCR riesige Flüchtlingscamps mittels Container oder Zelten. Anfangs bekam die UNO auskömmliche Gelder die die Grundversorgung mit Nahrung, Kleidern und Wasser auf niedrigem Niveau sicherstellte. Bildung oder Ausbildung war dabei nicht vorgesehen. Die finanziellen Zuwendungen der Staaten wurden jedoch 2014 massiv gekürzt, die Versorgung der Flüchtlinge war und ist bis heute nicht mehr gesichert. Teilweise, wurde die Wasserversorgung in den Lagern abgestellt. Dieser Zustand dauert noch heute an.

Wen wundert es wenn sich die Menschen auf den Weg machten, anstatt in die Camps zu gehen oder in diesen zu verbleiben.

 

Überleben war angesagt, nicht kläglich zu verenden.

Vor den „Segnungen“ der Nazis im vorigen Jahrhundert hatten sich auch Millionen Menschen als Flüchtlinge auf den Weg gemacht. Auch nach dem Weltkrieg machten sich Millionen auf den Weg. Die damaligen Flüchtlinge wurden aufgenommen und integriert.

 

Machen wir einen Zeitsprung von drei Jahren.

Die Wege oder Routen sind inzwischen bekannt, es gibt eine Westroute, eine Südroute, eine Ostroute und eine Balkanroute. Die ersten drei Routen gehen alle über das Mittelmeer, die Balkanroute benutzt den Landweg.

 

  1. Zwischenruf-Rechtliche Grundlagen

Es gibt die Erklärung der Menschenrechte, es gibt das Asylrecht und es gibt ein Flüchtlingsrecht. Alle Staaten der 28 EU Länder haben diese Rechte ratifiziert und die EU ist diesen Rechten beigetreten und die assoziierten Staaten haben diese Rechte akzeptiert und durch ihre Parlamente ratifiziert. Mehr noch, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist ein klares und starkes Bekenntnis zu den Rechten der EU-Bürgerinnen und -Bürger.Diese Rechte gelten aber auch für alle BürgerInnen.

Mit Verordnungen und Gesetzen hat sich die EU mit  ihren 28 Staaten auf den Zustrom von Flüchtlingen vorbereiten können. Zu nennen ist der Vertrag von Lissabon, das Schengener Abkommen und das Dubliner Abkommen. Das Prozedere der Verordnungen und Richtlinien wäre demnach, dass die Flüchtlinge die die Mittelmeerrouten benutzen dort versorgt werden wo sie an Land gehen. Analog werden die Flüchtlinge der Landrouten dort versorgt, wo sie die Grenze des Schengenraumes übertreten. Die sogenannten Grenzländer sind nun zu einer umfangreichen Registrierungs- und Erfassungsmaßnahme verpflichtet. Danach werden sie in Auffang- oder Erstversorgungslager verbracht und müssen dort bleiben bis ihre Anträge abschließend bearbeitet sind.

Die Grenzen werden von der europäischen Grenzschutzorganisation „Frontex“ aus Warschau geschützt. Die Seegrenzen zu Italien durch die Operation „Triton“ und die Grenzen im östlichen Mittelmeer durch die „Poseidon Sea“ Operation. Davor wurden Rettungsmaßnahmen, nicht Grenzsicherung, von der italienischen Küstenwache mit der Operation „Mare Nostrum“ durchgeführt. Weil „Mare Nostrum“ zu teuer war, beauftragte die EU „Frontex“ mit einer reinen Grenzschutzoperation die nur ein Drittel der italienischen Operation kostete. Seenotrettung sollte demnach nicht mehr stattfinden, zumindest nicht mehr vordringlich.

 

  1. Zwischenruf: Schlepper
Boat-People auf einem überfüllten Boot. Photo: © UNHC

Boat-People auf einem überfüllten Boot. Photo: © UNHC

In Brüssel erfuhren wir zum ersten mal im Oktober 2013 von diesem Begriff. Fischer vor der italienischen Küste hatten Flüchtlinge aus dem Meer „gefischt“ und an Land gebracht. Die italienischen Behörden sahen dies als Beihilfe zu illegalen Grenzübertritt an. Gleichzeitig unterstellte man den italienischen Fischern den Flüchtlinge als Schlepper geholfen zu haben.

Es war schon ziemlich zynisch wenn ein Fischer einen Menschen vor dem Ertrinken gerettet hatte und ihm  dann der Prozess gemacht werden sollte. Sollten die Fischer die Flüchtlinge sehenden Auges ertrinken lassen?

 

Belastung der EU durch die Flüchtlinge

Die 28 Länder der EU als auch Brüssel wussten also mindestens seit 2013 was auf sie zukam. Flüchtlinge die sich auf den Weg machten, die in ihrer Quantität das Ausmaß einer Völkerwanderung annahm. Völkerwanderung deshalb, weil den Flüchtlingen die Lebensgrundlagen durch den Westen in vielerlei Weise entzogen wurden.

Deutschland wähnte sich auf der sicheren Seite, war es doch durch das Dublin Abkommen geschützt und konnte Flüchtlinge an seine Nachbarn zurück überweisen, da diese ja „sichere Herkunftsstaaten“ waren und sind.

Durch den langsam steigenden Ansturm der Flüchtlinge beginnend in 2013 war schon auszumachen, dass die Mittelmeerstaaten aber auch Ungarn überfordert werden, wenn die Menschen erst einmal ankommen.

Heute in 2015 ist die Menge der Flüchtlinge auf hunderttausende angewachsen und die Zuwachsraten nehmen nicht ab. Deutschland rechnete zuerst mit 450.000, dann mit 800.000 und erst kürzlich wurde die Zahl auf 1 Million erhöht. Wer bietet mehr, könnte man meinen?

 

Keine Bleibe in Syrien Photo: (c)   UNHCR / B. Diab

Keine Bleibe in Syrien
Photo: (c) UNHCR / B. Diab

Zuerst fielen die Schranken bei den Mittelmeerstaaten, wie Italien, Griechenland, Malta und Spanien. Tausende Flüchtlinge landeten zwischen den Touristen die sich an den Stränden sonnten.

Nach anfänglichen Versuchen der Mittelmeer-Behörden die Flüchtlinge gem. den EU Richtlinien zu registrieren, gaben die Behörden auf und ließen die Flüchtlinge weiterreisen. Riesige Fähren brachten tausende Flüchtlinge von den Inseln Kos oder Lesbos auf das griechische Festland. Fast alle Flüchtlinge hatten offensichtlich ein Ziel „Germany“ oder „Merkel“, einige wollten allerdings nach Großbritannien oder Schweden.

Die Mittelmeerländer wollten nicht mehr das Geschäft der Deutschen besorgen; denn Solidarität, mit dem für sie riesigen Problem, hatten sie vergebens eingefordert. Die staatlichen Institutionen der Mittelmeerländer meldeten sich ab und schalteten in den Standby-Modus.

Ob in Italien oder in Griechenland, überall campierten die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland auf den Straßen und den öffentlichen Gebäuden.

Anders die Balkanroute. Ungarn wusste überhaupt nicht mit den Flüchtlingen umzugehen, Angst und Hysterie zeigten sich in den Reaktionen der ungarischen Institutionen. Teilweise wusste man die Flüchtlinge nicht mit Trinkwasser zu versorgen. Premierminister Viktor Orbán brachte es als erster in Brüssel auf den Punkt, indem er sagte: Wir haben kein europäisches Problem, sondern ein deutsches Problem. Orban floh in Aktionen, die man nur als hilflos bezeichnen kann, er baute Zäune an seiner Grenze. In seinem Land gab es Knüppel, Wasserwerfer und Pfefferspray. Auch Mazedonien versuchte mit Knüppeln und Pfefferspray die Flüchtlinge vor dem Übertreten der Grenze abzuhalten. Umsonst, die Völkerwanderung bewegte sich weiter. Wie die Situation im Mittelmeer schon zeigte, die Flüchtlinge hatten nichts mehr zu verlieren.Nachdem der Zaun fertig gestellt war, machte sich die Völkerwanderung über Kroatien auf dem Weg.

Die Wende brachte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die anordnete, sämtliche Flüchtlinge nach Deutschland durch zu lassen.

Die Folge. Der gesamte Flüchtlingsstrom ergoss sich nun mehr über Deutschland. Grenzkontrollen wurden an den Außengrenzen Deutschlands wieder eingeführt. Das reinste Chaos tat sich auf. Dublin oder Schengen waren nur noch Städte in Europa, die Abkommen waren perdu. Die Freizügigkeit in Europa, ein Herzstück im europäischen Haus, war gestorben und der Beliebigkeit ausgesetzt.

 

  1. Zwischenruf: Deutschland entscheidet – endlich

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich entschieden hatte die Flüchtlinge durchzulassen, waren 4 Wochen und je nachdem wie man es betrachtete fast 2 Jahre der Untätigkeit vergangen. Auch das zuständige Innenministerium unter Dr. Thomas de Maizière war auf Tauchstation. Thomas de Maizière ging sogar noch weiter und pochte auf Einhaltung der Dublin Verträge, die Deutschland die Flüchtlinge vom Hals hielt. Die deutsche Regierung lenkte vom eigentlichen Problem ab, indem sie die Schleuserproblematik ins Spiel brachte. Und über Ursachen wollte man überhaupt nicht reden, ja, man nahm sie noch nicht einmal zur Kenntnis.

Aktuell ist der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt zurückgetreten – ein Bauernopfer für das angerichtete Chaos.

In Brüssel wurde mehr zaghaft nur über eine Lösung beraten – die Quotenregelung. Die ist ja nichts anderes als die föderale Verteilung die  schon in  der Bundesrepublik schlecht praktiziert und schlecht gelitten wird. Unabhängig davon war durch die Frontex Operation auch der erste Tote zu beklagen indem ein 17-jähriger Flüchtling in der Ägäis getötet wurde. Andere Regelungen, wie man die „Völkerwanderung“ in den  Griff bekommen könnte, wurden nicht einmal erwähnt. Neuerdings soll die Bundeswehr mit 950 Mann die Schleuserboote mit Waffengewalt bekämpfen . Ein Irrsinn mit Toten? Der heutige Stand: 130.000 Flüchtlinge sollten über die 28 Länder nach einem Schlüssel verteilt werden. Nur es sind Millionen auf dem Weg. Da müsste schon mal eine europäische Einwanderungspolitik zumindest angedacht werden. Da müssten schon einmal Ursachenbekämpfungen auf die europäische Agenda. Wie wäre es wenn zumindest die Gelder an die UNHCR überwiesen werden, damit die Grundversorgung der Flüchtlinge in den Lagern gewährleistet wird?

 

  1. Zwischenruf: Was soll mit den Flüchtlingen passieren?
Soweit die Füße tragen Photo: (c) © UNHCR/B.Betzelt

Soweit die Füße tragen
Photo:  © UNHCR/B.Betzelt

Die Millionen von Flüchtlingen die auf dem Weg sind, sind Menschen, die es verdient haben würdevoll behandelt zu werden. Es waren ehrenamtliche Europäer in Budapest, Athen, Rom, Kos, Lesbos, München und Düsseldorf, die gezeigt haben, was Menschlichkeit in Europa bedeutet.

Sie haben zugehört, sie haben sich zugewendet, haben Wasser, Brot oder Suppen gereicht, sie haben gelächelt, haben berührt und wurden berührt. Nur, dies alles sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass der Staat abwesend ist. Und das ist jetzt ein Riesenproblem! Denn die Flüchtlinge sind keine Hütchen in einem Spiel, dessen Spielregeln recht fragwürdig sind. Da ist das sehr große Problem der Integration ( Nicht Assimilation ) und das unbekannte Problem der vorausschauenden Hilfsleistungen.

Die Ehrenämtler verfügen nicht über die Institutionen. Sprachkurse müssen zur Zeit über Sponsoring nur unzureichend betrieben werden. Verständnis für die andere Kulturen muss geübt werden, dies kann aber doch nur über Kommunikation laufen. Was ist mit Ausbildung, was mit Bildung? Programme und Projekte müssen her, die nicht nur über viele bunte und nette Flyer ein Problem beschreiben aber nicht mit den Adressaten arbeiten wollen. Was ist mit den Jugendlichen die aus sicheren Herkunftsländern kommen? Sicher sie müssen wahrscheinlich zurück. Aber können wir ihnen hier nicht eine brauchbare Ausbildung zukommen lassen? Dazu braucht es aber wieder Programme, dies können die Ehrenämtler nicht leisten. Die Institutionen von Berlin bis in die lokale Ebene leisten es sich Wunschdenken zu kommunizieren, anstatt sachlich an den Problemen zu arbeiten. Abgesehen davon, dass die Ehrenämtler im „Feuer“ stehen und die Institutionen in Kauf nehmen, dass die Ehrenämtler sich mit einem Burnout-Syndrom verabschieden. Verantwortung sieht anders aus. Wo sind die großen Häuptlinge aus Politik und Verwaltung die überzeugend führen?

Kommen wir zum Schluss. Ob nun die EU oder die Einzelstaaten der EU, alle haben kläglich versagt! Die Frage ist doch, befinden wir uns alle auf einem Weg auf dem der Staat sich verabschiedet hat und der Demos seine Belange wieder selber erledigt? Müssen wir uns anders organisieren, weil unsere politische und administrative  Organisation nicht mehr zeitgemäß ist?

Den Völkern Europas und der EU war es, im Gegensatz zu den Regierenden,  noch nie egal ob im Mittelmeer Menschen ertrinken. Oder ob an den Grenzen Mazedoniens, Ungarns oder anderer europäischer Staaten Menschen mit Knüppeln, Schüssen, Pfefferspray und auf messerscharfen Drahtverhauen empfangen werden. Auch sollen Menschen nicht im Dreck und ungeschützt irgendwo stranden. Die 507 Millionen Europäer schämen sich für solche Handlungsweisen.

Hilfe durch die UNHCR  Photo: (c) UNHCR / B- Kouane

Hilfe durch die UNHCR Photo: (c) UNHCR / B- Kouame

Deshalb ist es Zeit, dass die staatlichen und überstaatlichen Institutionen und Organe endlich das tun wofür wir sie verpflichtet sahen, sich um die Flüchtlinge kümmern und zwar würdevoll. Tausende Tote im Mittelmeer, im Atlantik oder auf dem Festland, sind tausende Tote zuviel. Jeder Tote zählt, nicht nur der kleine dreijährige Junge, der Aylan Kurdi hieß. Kurdi wurde an die Küste gespült, wie ein Stück Holz oder Abfall oder abgelassenes Öl, es war aber ein Menschenkind, dass durch unser Tun gerettet werden konnte.

 

„Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist, da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise, dort, wo der Staat aufhört,“ so der Philosoph Friedrich Nietsche. Deshalb sollten wir, die nicht zu den Überflüssigen gehören den Staat abmahnen oder an einer weitergehenden Ordnung arbeiten.

 

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik und european-mosaic aus dem EN-Kreis

 


Wir danken der UNHCR für die zur Verfügungstellung des Bildmaterials.

 

 

 


 

Dann geriet das Ganze zu einem Tribunal

[jpg]  In der Vergangenheit hatten viele meiner Kollegen aus dem Pressekorps als auch ich den Eindruck, das Projekt EU ist nicht mehr so interessant für die Regierenden der EU. Denn seit Jahren tritt das Projekt EU auf der Stelle.

Nun, die Finanzkrise und Brüssel erkannten, auch Europa ist nicht sicher vor den Finanzjongleuren. 750 Mrd. Euro wurden als Schutzschild über Europa aufgespannt. Griechenland und Irland mussten erst einmal gerettet werden. Und diese Finanzkrise ging nicht ohne Getöse in Brüssel ab. Die Deutschen wollten in den Diskussionen die harte DM wieder haben und die Griechen in die Insolvenz gehen lassen. Schnell war jedoch allen klar, die Mitglieder der Eurozone sitzen in einem Boot.  Es wurden Konferenzen ohne Ende abgehalten. Nebenbei, wurde auch noch das Wirtschaftssystem in der jetzigen Form in Frage gestellt. In Brüssel war man mehr die Getriebenen. Von politischer Gestaltung konnte da keine Rede mehr sein.

Und da passierte etwas unbemerkt für die Kommission und für den Rat der EU, in Ungarn wurde gewählt.

In all der Aufregung hatte man übersehen, wie Ungarn sich von einem einstmals Superstar zu einem Aschenputtel entwickelt hatte.

Man hätte ja nur mal eben rüber zu Eurostat gehen können, die hatten die Zahlen.

     

Verwundert bemerkte man, Ungarn erfüllte auf einmal die Kriterien für die Eurozone nicht mehr. Ungarn leidet unter einem wirtschaftlichen Niedergang. Das Tafelsilber ist verkauft, was soll man noch dazu setzen?

Aber wie gesagt, es waren Wahlen. Und wie das so ist, bei wirtschaftlich schlechten Zeiten, die Konservativen müssen her. Und Ungarn wählte konservativ und zwar so konservativ, dass auf einmal eine verfassungsändernde 2/3 Mehrheit im Parlament heraus kam. Und wenn solch  eine Mehrheit heraus kam, musste die Verfassung auf den Tisch. Und was wird als erstes geändert, logisch, die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt. Aber was in Italien für einen Berlusconi eine Selbstverständlichkeit ist, die Justiz, das Parlament und die Regierung ganz nach belieben zu manipulieren, dass darf in Ungarn natürlich nicht sein. Obwohl, es war und ist ja keine Manipulation. In der EU wird mit zweierlei Maßstäben gemessen, Italien hat 60 Millionen Einwohner, Ungarn nur 10 Millionen.

Ich will das Mediengesetz in Ungarn nicht entschuldigen, aber wenn man Ungarn an den europäischen Pranger stellt, so gehören einige andere Staaten auch an denselben. Dies vorab als Betrachtung.

So ludt die Auslandsgesellschaft NRW zu einem Vortrag und einer Diskussion ein. Der Botschafter Dr. József Czukor kam extra aus Berlin um eine Bestandsaufnahme aus ungarischer Sicht zu machen. Es versprach spannend zu werden, zumal Ungarn die Präsidentschaft der EU seit dem 1.1.2011 für ein halbes Jahr hat.

Am Panel saßen Bernhard Rapkay (SPD) MdeP, Dr.Michael Kluth (Dokumentarfilmer und Ungarn Experte), Klaus Wegener (Moderator), Präsident der Auslandsgesellschaft NRW e.V. und wie gesagt der ungarische Botschafter Dr.József Czukor.

Nachdem Frau Magdolna Wiebe von der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft ein paar einleitende Worte gesprochen hatte, ging es auch schon los.

Bernhard Rapkay sprach Ungarn indirekt die Demokratiefähigkeit ab und Dr.Michael Kluth wusste als "Ungarn Experte" auch eine lange Liste von "Unartigkeiten" die in Ungarn zu beobachten waren aufzuzählen. Das Tribunal war eröffnet. Ich fand es als Deutscher Journalist sehr peinlich, wie mit einem diplomatischen Vertreter einer Nation umgegangen wurde.

Jean-Claude Junker aus Luxemburg hat schon Recht, in der EU ist eine recht ruppige Art zu bemerken, wie die Großen mit den kleinen Ländern umgehen. Die Großen machen alles richtig und die Kleinen logischerweise alles falsch.

Der Botschafter hatte natürlich recht. Die Wahlen waren nach demokratischen Regeln abgehalten worden und er als Botschafter ist ein Bediensteter seines Landes und hat sich zu politischen Fragen nicht zu äußern. Auch wenn er wollte, er hätte nicht gedurft. Und so schlug sich der Botschafter recht wacker, klärte auf oder stellte richtig. Nebenbei stellte er noch das Programm Ungarns für die 6 Monate der Ratspräsidentschaft vor. Nur dieses Programm wollte am Panel niemand hören. Interessant wäre was Ungarn in puncto Minderheitspolitik vor hat. Es war ein unfaires Spiel und der Auslandsgesellschaft nicht würdig. Man konnte den Eindruck gewinnen, es sollte von der derzeitig desolaten EU Politik abgelenkt werden.

Die eigentliche Frage, die sich bei diesem Spiel eigentlich stellte, wurde nicht gestellt. Was ist denn eigentlich wenn ein Mitgliedsstaat so gegen die Regeln verstößt, dass er nicht mehr haltbar ist? Diese Frage wurde schon einmal "beinahe" gestellt, als Jörg Hayder in Österreich mitregierte.

In Ungarn heißt der Ministerpräsident nun Viktor Orbán, ist so dem Vernehmen nach erzkonservativ nur er ist nicht nationalistisch. Warum er in die ganz rechte Ecke gestellt wurde, war auch nicht so ersichtlich.  Viktor Orbán hat aber vor der Wahl niemanden im Unklaren gelassen was er tun würde wenn er gewählt würde. Und jetzt? Weil er das tut was er versprach ist die EU erstaunt. Wie hohl und scheinheilig muss man sein um solch eine Rolle zu spielen, wie sie zur Zeit die EU spielt. Als es Ungarn noch gut ging, hat man dem Land von Seiten der Sozialisten und Konservativen auf die Schulter geklopft. Warum wohl? Klar, die Wirtschaft brummte. Und jetzt? Jetzt geht es Ungarn nicht so gut, jetzt soll es das Schmuddelkind sein und die Klappe halten? Wie dem auch sei, es war keine Veranstaltung die einer Ratspräsidentschaft entsprach. Viele auf den Fluren hatten etwas anderes erwartet. Man hätte über Europa diskutieren können. Europa braucht Impulse und da sind auch die Ungarn gefragt, aber nicht nur die Ungarn. Da sind vor allen Dingen die Menschen in Europa gefragt. Die Wirtschaft geht nur dorthin wo es Gewinne oder Margen gibt, die Staatsform ist der Wirtschaft egal. Schon öfter wurde kommentiert, Europa ist nicht die Summe der Bruttoinlandsprodukte ihrer Nationen. Europa ist ein Zusammenschluss von zur Zeit 27 freien Nationen, wovon eine Nation Ungarn ist.
Und so wurde aus einem erwartet interessanten Nachmittag ein langweiliges Tribunal, welches noch nicht einmal einen Sinn ergab.

Nun gut, dann haben wir jetzt einen Schuldigen für alles was so schief lief in Europa. Das die EU sich in außenpolitischer Hinsicht nicht äußern mag, wie jetzt zum Nordafrika Thema. Das die EU keine neuen finanzpolitischen Spielregeln erlassen will. Das das Projekt Europa der Regionen nicht weiter mit Leben gefüllt wird. Das es ein Europa der Offiziellen gibt aber keins der kleinen Leute. Der Agrarmarkt seit Jahren reformiert werden soll. Eine gemeinsame Verteidigungsarmee entstehen sollte. Das es ein Europa der Wirtschaft gibt und kein Europa der Menschen. Und Straßburg die Rechte bekommt die es durch den Souverän bekommen hatte.Und, und, und.

Ach Europa, du hast soviel zu tun und lässt alles liegen.

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Dortmund.

Liebevolle Netze, die immer wieder neu geknüpft werden

[jpg] Ach, könnte das in allen gesellschaftlichen Bereichen so sein. Dieses gegenseitige Befruchten und von einander lernen, Freude an den Leistungen des Anderen zu haben. Wo das Fremde etwas Vertrautes ist, was man nicht missen möchte – es ist das zweite Ich.

So fiel am 12.4.2010 der Startschuss für die "SCENE UNGARN IN NRW" zum 10.mal. Alle 2 Jahre stellt sich die ungarische Kultur in NRW vor, so dass man sehen kann wie sich die nunmehr Freunde entwickelt haben. 187 Veranstaltungen in 14 Städten mit mehr als 100 Künstlern sollen es werden. Ungarische Musik, Theater, Tanz, Literatur, Film und bildende Kunst werden NRW und das Ruhrgebiet reicher machen. Eingebettet sind unsere Gäste auch in das Kulturhauptstadtjahr 2010, Ruhr 2010. Die Eröffnung fand im Operhaus Dortmund statt und wurde von der deutsch ungarischen Gesellschaft organisiert, wobei der Ministerpräsident des Landes NRW diese Veranstaltungen fördert.

EröffnungsrednerInnen:
 

            
   Birgit Jörder  Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff    János Can Togay

Birgit Jörder, Bürgermeisterin der Stadt Dortmund
Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, Kulturstaatssekretär beim Ministerpräsidenten von NRW
János Can Togay, Direktor des Collegium Hungaricum, Berlin
                              Botschaftsrat der ungarischen Botschaft, Berlin

Bürgermeisterin Jörder betonte die in vielen Städten NRW vernetzte Kulturarbeit, die die internationale Kultur einbezieht. Dieses Treffen geht auf eine Idee der Stadt Dortmund aus dem Jahre 1987 zurück, dem sich inzwischen andere Städte NRW angeschlossen haben. Das besonders entspannte aber auch freundschaftliche Verhältnis zu Ungarn kommt dadurch zum Ausdruck, dass der Wunsch seine Erfüllung findet immer mehr von dem Anderen zu erfahren.

Kulturstaatssekretär Grosse-Brockhoff unterstrich, dass die Beteiligung noch nie so groß war wie in diesem Jahr. Er erinnerte daran, dass es der ungarische Außenminister Horn war, der den eisernen Vorhang zerschnitten hatte. Neben der Metropole Ruhr und Istanbul ist auch das ungarische Pécs europäische Kulturhauptstadt. In dieser Reihe werden für ihn der hohe künstlerische Standard und das kreative Potenzial Ungarn  sichtbar. Kulturarbeit unterliegt in der Landesregierung nicht einer Kürzung, damit soll die Wichtigkeit dieses Ressorts betont werden. Auch die Städte, denn nur mit diesen ist gute Kulturarbeit möglich, sollten sich nicht dazu hinreißen lassen Kulturarbeit zu kürzen.

Der ungarische Botschaftsrat János Can Togay, der selber ein anerkannter internationaler Kulturschaffender ist, drückte zu erst sein Beileid und das seines Volkes zum Tode des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski aus. Die besonderen innigen Beziehungen zu Polen machten diese Beileidsbekundung notwendig.
In diesem Jahr sind besondere Programme und Veranstaltungen geplant, die die kompromisslose, innovative und aufrüttelnde schöne ungarische Gegenwartskultur zeigen wird. Die Geschichte Ungarns seit dem 1. Weltkrieg hat dem Land viel Kraft und Energie abverlangt, die einen Transformationsprozess erforderte der dem des heutigen Ruhrgebietes ähnelt. Diese Spannungsverhältnisse und dynamischen Prozesse wurden immer wieder in einem gegenseitigen Austausch und Dialog mit NRW reflektiert. Beide konnten dabei von den Erfahrungen des Anderen profitieren. Ungarn durchlebt heute eine Rückbesinnung auf seine Wurzeln, um daraus eine moderne Identität zu erlangen. Das die internationale Finanzkrise diese dynamischen Prozesse in Ungarn verlangsamt hat, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Auch Ungarn durchlebt, ebenso wie andere Staaten, eine tiefgreifende Krise. Trotz allem oder gerade deswegen, bietet Ungarn heute international anerkannte Künstler, die das Beste des Landes darstellen, den Auftritt in NRW. Kultur ist ein gesellschaftlicher Faktor in Ungarn, der hilft die Zukunft des Landes zu verbessern.  Das Interesse an der Kultur und damit auch der Kunst stellt eine gegenseitige Bereicherung dar, die Europa als gemeinsamen Kulturraum erlebbar macht.

So konnte man die Worte Togays durch die Aufführung des "Hungarian State Folk Ensemle"  mit ihrer Tanzperformance "Labyrinth" bestätigt bekommen.

Zu Grunde dieser Tanzperformance lagen die umfangreichen Sammlungen volkstümlicher, ungarischen Werke, die seinerzeit Bela Bartok sammelte um die Reichhaltigkeit Ungarns im Lied- und Erzählgut zu dokumentieren. Diese Werke wurden variiert  und neu interpretiert, dienten dem Tanztheater als Basis.

Durch leises Flüstern, mehr ein Wispern, machten sich diffuse Figuren im Dunklen bemerkbar. Disharmonische Klänge untermalten die Bewegungen im Halbdunkeln. Ein Dialog über Distanzen entstand kaum wahrnehmbar.

Dann entstand das Licht, grell und die Akteure kamen. Die Kompanie ganz in schwarz wobei sich paarweise Akteure in grauen mit roten Streifen versehenen Kostümen  unter sie mischten. Orientierungslos versuchte man  bestimmte Haltepunkte zu erlangen, was aber nicht gelang. Es entstand eine Sogwirkung, die den Betrachter zwang sich in die Handlung einzubringen. Eine "Zigeunerband" bestehend aus den typischen Instrumenten Geige, Cello, Kontrabass und Klarinette, betrat ab und an die Bühne, begleitete die Kompanie und verschwand wieder, mal im Vordergrund, dann wieder im Hintergrund.

      

Schnelle Wechsel der Szenen die durch Gesangsvorträge nur kurz unterbrochen wurden. Wie zufällig bildeten sich die Tanzformationen die sich mal in schnellem Rhythmus, dann wieder im normalen Paartanz  trafen. Trennung und Bindung ergaben sich wie zufällig und doch gewollt. Dann zwei weiße angestrahlte quadratische Areale in welchen sich das grau/rote Paar zum Vortrag begab. Sehnsucht kam durch die Stimmen und die Bewegungen auf. Ein aufeinander zu Bewegen über das Dunkle in des Anderen Feld, sich finden wollen und doch wieder trennen müssen. Ruhig und erhaben trat die Kompanie ab. Pause und dunkle Bühne. Licht. Es wurden nunmehr seitwärts Sprechgesänge vorgetragen, fordernde, klagende oder lamentierende. Man brauchte keine Sprachkenntnisse um zu erfühlen, es ist eine emotionale Krise. Stille. Dann die Kompanie, immer wieder in weiten schwarzen Mänteln mit Led Leuchten versehen, mit den Bewegungen schwingend, nun ergänzt durch mehrere grau/rot gekleidete Paar. Die Led Leuchten verstärkten die Bewegungen im Dunkeln, Gedankenblitze gleich wurden sie auf der Bühne wahrgenommen.

Die Musik wechselnd von  schnell bis langsam theatralisch, mal harmonisch kurze Melodien mit einem scheinbaren Erkennungswert, die sich  mit einem Stakkato von Disharmonien abwechselten, welche  eine ungeheurere Dynamik der Tänze erforderten. Schnelle detailversessene Schrittfolgen wechselten ab mit einer Ideenfülle, die choreographisch den Atem stocken ließ. Gebannt sah man sich selber in der Szene und hatte niemals Zeit der Ruhe. Mitgerissen wurde der Betrachter. Irgendwie konnte man die teilweise leidvolle Geschichte Ungarns in diesem Stück erkennen, wobei der Fall des eisernen Vorhangs eine weitere ungeheuere Orientierung auslöste.

Es war eine packende und spannende Geschichte die dieses Tanztheater erzählte, gefüllt mit ungarischer Folklore, die modern vermittelt  wurde. Die Choreographie, die von Csaba Horváth, Péter Gerzson und Gabór Mihály geschrieben wurde, hatte die Tradition neu aufbereitet. Lásló Sáry schrieb die Musik auf der Basis der umfangreichen Bartok Sammlung. Es war eine unterhaltende und sehenswerte Aufführung die eine Bereicherung und ein Highlight in der NRW Kultur darstellte. Minutenlanger Applaus des Publikums war der Dank an die Künstler. Danke Ungarn.

Die Veranstaltungen gehen noch bis zum Juni 2010 und werden in 14 Städten von NRW zu sehen sein.
Lernen Sie das Andere in sich kennen.
 
Der Flyer hierzu: scene_ungarn_flyer.pdf
Das Programm hierzu, nur Text: scene_ungarn_program.pdf

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Dortmund

 

Nachtrag: An dieser Stelle möchten wir uns noch ausdrücklich bei Magdolna Wiebe, Leiterin der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft, für ihre aufmerksame Pressebetreuung bedanken.

 


Alle Fotos in diesem Beitrag –  Copyright Linde Arndt