En Atendant – die zweite Dunkelheit

[jpg] Man könnte es auch mit "auf das Ende wartend" übersetzten, also „En attendant la fin“. Die belgische Choreografin, Anne Teresa De Keersmaeker brachte im Rahmen der Ruhrtriennale 2012 mit ihrer Compagnie ROSAS in der Jahrhunderthalle Bochum ihr Stück „En Atendant“ am 24. August zur Premiere. Es scheint auf die „Zweite Dunkelheit“ in Europa abzuzielen. Die Zeit in Europa, in der die Pest 1/3 der europäischen Bevölkerung tötete, in der Zeit als der hundertjährige Krieg (Erbfolgekrieg) wütete und als Clemens VII in Cesena 4.000 Bürger massakrierte. Und die Zeit der Gegenpäpste, in der in d´Avignon der Mittelpunkt der römisch katholischen Kirche war. Also die Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts. Dies alles deshalb weil  Anne Teresa De Keersmaeker die Ars Subtilior als musikalische Grundlage benutzte.

En Atendant ist ein zeitgenössisches Ballett, welches den neuen französischen Tanzstil markiert, er leitet sich ab vom Tanztheater einer Pina Bausch und eines Alwin Nikolais.
Die Bühne in der Jahrhunderthalle ist nackt und wird vorne durch eine rund 20 Meter lange und 5 cm dicke Wulstlinie aus Erde markiert. Sie verläuft rund 10 Meter vor dem beginnenden Parkett. Links und rechts unterhalb der Industriebauten in der Halle herrscht vollkommene Dunkelheit. Im vorderen Bereich, in etwa 20 Meter Entfernung, scheint durch die großen Fenster das restliche Tageslicht in die Halle. Unterhalb der Fenster befinden sich Öffnungen durch die Luft herein strömt. Rechts vorne ist eine Bank aufgebaut. Ansonsten ist die Bühne leer.

   

 

Ein Musiker tritt mit einer Querflöte auf. Er steht vor dem Publikum, vor der Wulstlinie. Ein zuerst leichtes Rauschen aus der Flöte, leicht anschwellend eindringlich warnend erklingt und dies ohne Unterbrechung fast 10 Minuten lang. Eine Sängerin mit einer Musikerin die eine mittelalterlichen Geige mitführt  und ein Musiker der eine mittelalterliche Flöte spielen wird erscheinen. Die Sängerin mit einem zuerst eindringlich rufenden Ton, wie bei einem Lamento. Die Tänzerinnen und Tänzer treten zunächst einzelnd auf, es folgt sodann die Compagnie. Während die Sängerin ihre Geschichte singt, tanzt die Compagnie. Es ist ein Tanz voller Energie, der aufbegehrt und doch letztendlich sich selber, den Menschen zerstören wird, man ahnt es. Die Dämmerung, das diffuse Licht die schwarzen Kostüme der Tänzer lassen einen Kampf erkennen, den niemand gewinnen kann. Ein Aufbegehren des Einzelnen, ein Schutz suchen in der Gruppe. Depressive Phasen lassen die Verzweiflung erkennen. Es gibt keine Rettung mehr. Oder doch? Die Nacht als die Schwester des Todes, sie bringt die Zeit die nötig ist. Wofür? Zu entscheiden zwischen Leben und Tod. Keuchend, stöhnend, stampfend und auch schwingend wird das Band (Wulstlinie) zerrissen, Erde zerstiebt in alle Richtungen.Nichts wird nach dieser Nacht so sein wie es einmal war. Das gegenseitige Halten bringt nur weitere Schmerzen und Nöte, die letztendlich nur zu dem Einen führen, dem einen Tod der alle und alles auslöscht.

Die Musiker haben die Szene verlassen, nichts gibt es mehr zu berichten, worüber sollen wir  uns unterhalten. Die Tänzer verlassen die Szene und verschwinden in die Nacht.

Nacktheit, ohne dem was uns ausmacht, führt es uns dahin wo wir herkamen – ins Nichts. Der Mensch tritt nackt ohne alles ab. Dunkelheit ist über der Szene, der Tod hat alle geholt.

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Anne Teresa De Keersmaeker hat mit en atendant ein Werk geschaffen welches in seiner Dramatik kaum zu überbieten ist. Die von der Compagnie getanzten Botschaften reißen den Betrachter  in den eigenen Gefühlen hin und her. Depression wechselt mit Aggression, Hoffnungslosigkeit überfällt einen, die nur durch die schöne, mit Todesahnungen durchzogene Tanzlandschaft, kaschiert wird. Es sind sehr schwierige Einzelbewegungen, die in Bewegungen der Gesamtgruppe münden. Die Gruppe vollbringt dabei intuitive Gesamtbewegungen die manchmal in eine lebende Skulptur münden. Dann ein mehr beschwingter tänzerischer „danse des troi“, in  der drei Tänzer wie an einem unsichtbarem Band über die Bühne tanzen. Es ist „erschreckend“ wunderbares modernes Tanztheater welches einen über die gesamte Zeit nicht los lässt.
Als die Nacht zu Ende ist, musste man erst einmal Atem holen, so überwältigend war dieses Stück.

Wenn man sich die geschichtlichen Hintergründe ansieht, sieht man die vielfältigen politischen und sozialen Verwerfungen, denen Europa damals ausgesetzt war. Und wenn wir den Begriff der zweiten Dunkelheit an die zweite Pestpandemiewelle  heften, ergibt das die Analogie des Werkes von Anne Teresa De Keersmaeker.

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Bochum
 [Fotos: © Linde Arndt]

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Choreografie — Anne Teresa De Keersmaeker
Bühne — Michel François
Kostüme — Anne-Catherine Kunz
Garderobe — Emma Zune

 — Ensemble Cour et Coeur:
Musikalische Leitung und Aufnahmen — Bart Coen
Geige — An Van Laethem
Gesang — Els Van Laethem,, Annelies Van Gramberen
Flöte — Michael Schmid
Sound — Vanessa Court, Alexandre Fostier, Juliette Wion
Technik — Bert van Dyke

Tänzer:

  • Bostjan Antoncic,
  • Carlos Garbin,
  • Cynthia Loemij,
  • Mark Lorimer,
  • Mikael Marklund,
  • Chrysa Parkinson,
  • Sandy Williams,
  • Sue-Yeon Youn