Schuldig, schuldig, schuldig der fahrlässigen Tötung

[jpg] Als die EU zum ersten mal von dem Untergang der Flüchtlinge im Mittelmeer erfuhr, hätte sie direkt handeln müssen. Stattdessen bekam die Öffentlichkeit nur weich gespülte Sprachhülsen um die „Ohren“ geschlagen. Und das geht jetzt schon monatelang, inzwischen haben wir geschätzte 2.000 Tote im Mittelmeer gezählt. Und die EU? Sie hat ihre Frontex Operation Trident vor der italienischen Küste des Mittelmeers. Die Leitmedien hatten die Ukraine und Griechenland auf dem Radar. Da waren ein paar ertrunkene Afrikaner mehr oder weniger nicht so wichtig. Und dann kam am Sonntag, dem 19. April 2015 die Katastrophe mit 700 bis 900 ertrunkenen Afrikanern, die vor den Augen der Besatzung des Containerschiffes “King Jacob” ertranken. Über Twitter gingen die Bilder mit den Nachrichten um die ganze Welt. Der Papst und der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon meldeten sich zu Wort und erinnerten die EU an ihre Verantwortung. Und diesmal hielten die westlichen Leitmedien nicht still oder schrieben den Vorfall runter.

Die EU konnte sich jetzt nicht mehr wegducken um die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Schnell rief der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk,  einen Sondergipfel der Regierungschefs zum 23. April 2015 nach Brüssel. Das war schnell, sehr schnell für eine Ratssitzung der Regierungschefs der EU. Nachher wird sich herausstellen, es war nur Aktionismus.

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(c) Guardia Costiera

 


Und der 23. April kam, ein Donnerstag, Bundeskanzlerin Angela Merkel traf um 14:00 Uhr ein und gab nach 7 Stunden um 21:20 Uhr ihre abschließende Pressekonferenz. Kein Wort der Trauer, so wie das eben bei den terroristischen Aktivitäten immer der Fall ist.  Immerhin gab es Tote und Verletzte und das in tausendfacher Höhe.

Die Entscheidungen der EU waren: Die Kosten der Frontex Mission „Triton“ sollen verdreifacht werden. Der Auftrag, den die Grenzschutztruppe der Frontex durch den Rat bekommen hatte, wird jedoch nicht geändert. Also weiterhin Grenzsicherung und nur im Wege des Internationalen Seerechts sollte Seenotrettung betrieben werden. Später setzt Ratspräsident Donald Tusk in seiner Pressekonferenz eins drauf, indem er anmerkte „Triton“ würde nur bei Aufforderung die Seenotrettung nach internationalem Recht betreiben. Deutsche und englische Kriegsschiffe werden im Mittelmeer kreuzen um der Grenzschutzmission hilfreich zur Seite zu stehen. Die italienische Mission „Mare Nostrum“ will man allerdings nicht mehr. Die aufgenommenen Flüchtlinge werden bei den Mittelmeer Küstenstaaten an Land verbracht, dort sollen sie gemäß den Dublin Verträgen „erkennungsdienstlich“ (Fingerabdrücke, Fotografien) behandelt um sodann in Lager verbracht zu werden, bis ihr Aufenthaltsstatus geklärt ist. Die Dublin Verträge sollen nicht geändert werden und die Anliegerstaaten des Mittelmeeres sollen keine Unterstützung für den Aufwand bekommen.

Schuldzuweisungen

Was folgte, ist eine mehr oder weniger offene Schuldzuweisung an die Schlepper, an die Heimatstaaten und an die Flüchtlinge selber. Authentisches Mitleid der EU konnte man getrost vergessen. Die EU hatte einen Scheck ausgestellt, hatte gegen alle Gruppen um die Flüchtlinge gedroht und gut war es. Im Juni 2015, zum 25. und 26., wird man das Thema nochmals behandeln. Angela Merkel: Am Geld soll es nicht liegen, bei Bedarf legen wir noch was drauf.

Peinlich und schlimm wurde es mit einem Satz des Ratspräsidenten Donald Tusk den dieser Eingangs der nachfolgenden Pressekonferenz von sich gab: „Europa hat diese Tragödie nicht verursacht“, so der Ratspräsident. Für viele der Kollegen war das eine Frechheit und Zynismus pur. Denn Europa hat diese Katastrophe verursacht. Hat der Ratspräsident die Kolonialzeit vergessen, die bis heute die afrikanischen Staaten belastet?

Neuere europäisch/afrikanische Geschichte

Lassen wir einmal ein bisschen die Geschichtsbücher des afrikanischen Kontinents aufschlagen um zu sehen wie es zu dieser Tragödie nur kommen konnte.

Es dürfte zur Allgemeinbildung eines jeden Europäers und US Amerikaners gehören, dass Afrika durch die europäischen Staaten und die USA wirtschaftlich ausgebeutet wurde und immer noch wird. Lassen wir den schwunghaften und gewinnbringenden Sklavenhandel einmal sein, der etwas zu weit zurück liegt. Und betrachten wir stellvertretend die Entwicklung von belgisch Kongo.

Als die belgische Regierung 1960 ihre ehemalige Kolonie Kongo ( Heute Demokratische Republik Kongo) in die Unabhängigkeit entließ, war diese Republik, trotz eines immensen Reichtums an Bodenschätzen, nicht oder kaum lebensfähig. Die Belgier hatten zwar gutes Geld mit Kupfer, Uran, Gold, Eisen und anderen Mineralien gemacht, hatten aber nichts in eine ordentliche Bildung, Staatswesen oder Gesundheitssystem investiert. Die Folge waren Unruhen als die Belgier abzogen. Ein junger Mann Mitte 30 trat mit einigen Mitstreitern auf die politische Bühne und verlangte einen Ausgleich von der belgischen Regierung. Patrice Émery Lumumba, so hieß der junge Mann, wurde nach der ersten demokratischen kongolesischen Wahl der erste Premierminister des Kongo (Kongo-Léopoldville). Auf einem feierlichem Festakt der mit dem belgischen  König Baudouin I und vielen internationalen Honorationen begangen wurde, musste König Baudouin I unbedingt die angeblichen Errungenschaften der belgischen Regierung vor den gesamten Gästen erwähnen.

In seiner Erwiderungsrede widersprach Premierminister Patrice Émery Lumumba dem belgischen König, mit folgenden Worten:

[…] erniedrigender Sklaverei, die uns mit Gewalt auferlegt wurde. […] Wir haben zermürbende Arbeit kennengelernt und mussten sie für einen Lohn erbringen, der es uns nicht gestattete, den Hunger zu vertreiben, uns zu kleiden oder in anständigen Verhältnissen zu wohnen oder unsere Kinder als geliebte Wesen großzuziehen. […] Wir kennen Spott, Beleidigungen, Schläge, die morgens, mittags und nachts unablässig ausgeteilt wurden, weil wir Neger waren. […] Wir haben erlebt, wie unser Land im Namen von angeblich rechtmäßigen Gesetzen aufgeteilt wurde, die tatsächlich nur besagen, dass das Recht mit dem Stärkeren ist. […] Wir werden die Massaker nicht vergessen, in denen so viele umgekommen sind, und ebenso wenig die Zellen, in die jene geworfen wurden, die sich einem Regime der Unterdrückung und Ausbeutung nicht unterwerfen wollten.“ (Quelle: „Der gewaltsame Tod von Patrice Lumumba“ Von Bill Vann)

Starke Worte des jungen Premierministers. König Baudouin I, wollte abreisen, seine Begleiter rieten ihm jedoch ab. Ein Jahr später war der junge Lumumba tot, er wurde gefoltert, erschossen und sein Körper mit Bleisäure aufgelöst, der Rest der wurde verbrannt. Später wird herauskommen, dass die CIA mit dem belgischen Königshaus und dem britischen Geheimdienst den Mord an Lumumba betrieb. Man hatte Angst die Rohstoffe nicht mehr zu bekommen, da man davon ausging, dass Lumumba ein Kommunist war. Der Sohn von Lumumba wird später Klage gegen zehn Belgier wegen Mordes in Belgien einreichen. Ein Untersuchungsausschuss in Belgien wird die Verwicklungen Belgiens mit dem Mord an Lumumba feststellen.

Bis heute hat Belgien mit anderen westlichen Staaten noch einen Fuß im Land um seine Rohstoffversorgungssicherheit zu gewährleisten. Bis heute ist die demokratische Republik Kongo militärischen Unruhen ausgesetzt. Und bis heute gehört der Kongo zu den ärmsten Ländern der Welt und steht im Armutsranking auf dem vorletzten Platz.

Durch die immerwährenden Kriege und gewaltsamen Auseinandersetzungen konnte keine wirtschaftliche Entwicklung registriert werden. Das BIP pro Kopf beträgt in der demokratischen Republik Kongo rund 650,– Dollar (Stand: 2013, Quelle: IWF), zum Vergleich. Dass BIP von Deutschland beträgt rund 40.000,– Dollar (Stand: 2013, Quelle: IWF).

Das in solch einem Land für die Menschen keine Perspektiven vorhanden sind ist selbstredend. Nur, wer ist an solch einem Elend Schuld? Die Kongolesen selber? Nein, sie hatten ja nie eine Chance gehabt aus dem natürlichen Reichtum ihres Landes Profit zu ziehen, wenn von außen die Destabilisierung des Landes betrieben wird, wie jetzt im Osten des Landes.

Nun, der Kongo ist nicht der einzige Staat der noch heute vom Westen gesteuert wird, nehmen wir Somalia, Nigeria, Kenia, Eritrea, Elfenbeinküste (Republik Côte d’Ivoire) oder Uganda. In der Regel alles Staaten in denen Politiker regieren die vom Westen gesteuert werden. Auch die destabilisierten Länder im Norden des afrikanischen Kontinents, sie alle können ihren Bewohnern keine Perspektiven mehr bieten. Die Losung lautet also: Verhunger (neuerdings verdurste) oder versuch dein Glück im Westen. Das diese Menschen nie eine Chance haben zu leben, i.S. von etwas zu essen, ein Dach über den Kopf oder Bekleidung zu haben, ist offensichtlich.

In den Dörfern wird für ein oder zwei Bewohner gesammelt, damit diese im Westen etwas verdienen und davon etwas dem Dorf zu gute kommen lassen können.

Ratspräsident Donald Tusk weiß entweder nichts von diesem Elend oder steckt bewusst den Kopf in den Sand. In beiden Fällen scheint er für dieses Problem überfordert zu sein.

Was sollte die EU als Sofortmaßnahme tun?

Die erste Entscheidung sollte sein, die italienische Operation „Mare Nostrum“ wieder einzusetzen. Denn die Italiener haben die Erfahrungen gemacht, mit der sich die Operation „Mare Nostrum“ noch verbessern könnte. Sie fuhren zumindest die Schifffahrtsrouten im Mittelmeer ab, während die Frontex nur 30 Kilometer vor der Küste Italiens patrolliert. Die Flüchtlinge mit ihren Schleppern steuern doch grundsätzlich die Schifffahrtsrouten an, wegen der größeren Chance von einem Handelsschiff aufgenommen zu werden.

Parallel sollten die Aufenthaltsbedingungen für Flüchtlinge für die Mittelmeerstaaten ausgebaut und verbessert werden. Die subventionierten Nahrungsmittel Exporte der EU sollten unterbunden werden. Stattdessen sollte in den afrikanischen Staaten mit den Afrikanern eine funktionierende Landwirtschaft aufgebaut werden. Das Bildungs- und Gesundheitssystem der afrikanischen Staaten sollte reformiert und den dortigen Möglichkeiten angepasst werden. Es ist so viel zu tun, es wird nicht so viel kosten um den Menschen in ihrem Heimatland eine Perspektive zu bieten.

Es hat sich alles verändert, es gibt neue News.

Was müssen die europäischen Regierungschefs aufgeatmet haben, als in Nepal ein schweres Erdbeben mit der Stärke 8 viele Dörfer und Teile der Hauptstadt Kathmandu in Schutt und Asche legten.

Es darf wieder im Mittelmeer gestorben werden, unbemerkt und namenlos. Und morgen wird der Ukrainekrieg und die Finanzkrise in Griechenland von dem Sterben im Mittelmeer ablenken.

Und warum? Nur weil die EU, die ja angeblich eine Wertegemeinschaft sein soll, keine Entscheidung für den Menschen, den Fremden, treffen will. Die EU hat Zeit gewonnen, mehr nicht. Denn an der Nordküste des afrikanischen Kontinents stehen heute schon 1 Millionen Menschen, bereit das nächste Schiff zu nehmen und sich auf den Weg zu machen. Was haben sie schon zu verlieren? Nur ihr Leben. Wen kümmert es?  Die EU?  Wohl kaum.

Jürgen Gerhardt aus Brüssel für european-mosaic  und en-mosaik