Europa bedeutet mehr als nur ein paar Richtlinien

Tagung des Ausschusses bei der EU in Brüssel  Foto: Linde Arndt

Tagung des Ausschusses bei der EU in Brüssel Foto: Linde Arndt

[jpg] Vor Ostern sprach mich ein Kollege, der im lokalen Bereich arbeitet, an. Ob ich den neusten Schwachsinn der EU kennen würden. Nein, erwiderte ich. Die wollen jetzt nur noch Kaffeemaschinen produzieren lassen, die die Heizplatten nach 15 Minuten ausschalten, so mein Gesprächspartner. Dabei schaute er mich erwartungsvoll an. Über mein Smartphone sah ich den Bericht der EU ein um ihm dann zu antworten: Es geht um das Energiesparen. Und ob er denn wisse, wenn man diese Idee umsetze, das Europa tausende Tonnen von Co2 sparen könne? Er fand es trotzdem nicht so toll wenn er solch eine Kaffeemaschine hätte. So ist es wenn man die Zusammenhänge nicht wissen will und stattdessen sein Vorurteil pflegt.

Solche und andere Gespräche habe ich im letzten Jahr dutzendfach geführt und konnte niemanden von Europa und der EU überzeugen. Wie kommt das?

Es ist ein diffuses Gefühl was Menschen Brüssel ablehnen lässt. Es ist die größere Einheit von 28 Staaten und rund 500 Millionen Menschen die den Europäer zurück schrecken lässt. Und es sind die mangelnden Informationen über Brüssel, Straßburg, Frankfurt oder auch Warschau, eine gewisse Unaufgeklärtheit der Bürger. Sicher ist die EU an der Aufklärung nicht ganz unschuldig, wenn man sich manche Publikation ansieht.

Aber, und das ist für mich irritierend, die nationalen Politiker aller Parteien verstehen es den Bürger gegen Brüssel aufzuhetzen. Der Nationalstaat wird als hilflos gegenüber Brüssel dargestellt. Brüssel als Krake, die alles regulieren will.

Alles dummes Zeug der jeweiligen nationalen Politiker um die Menschen zu manipulieren. Denn wenn der Regierungschef eines Nationalstaates NEIN zu einer Richtlinie sagt, landet die Richtlinie in der Tonne. Alle Vorlagen müssen durch den Rat der Europäischen Union, der auf dem Consilium in Brüssel tagt. Mit Einstimmigkeit im Rat werden die Richtlinien verabschiedet, ein Staat der EU kann eine Richtlinie zu Fall bringen, wenn er NEIN sagt.

Die krumme Gurke und sonstige Einzelvorschriften wurden vom Rat abgesegnet, also von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten François Hollande oder dem britischen Premierminister David Camaron. Und das sind nur drei der 28 Regierungschefs.

v.l.: Angela Merkel, Francois Hollande und David Cameron  Foto: © Linde Arndt

v.l.: Angela Merkel, François Hollande und David Cameron
Foto: © Linde Arndt

Manchmal ist dieses Spiel unerträglich für die 751 Abgeordneten des europäischen Parlaments. Denn für die Fehler, die man noch nicht einmal gemacht hat, gescholten zu werden und für gute Ideen, die sich die Regierungschefs als Eigenverdienst ans Revers heften, nicht gelobt zu werden, macht den Parlarmentarier traurig und manchmal auch wütend.

96 deutsche Abgeordnete werden über die Listen nach der Europawahl 2014 nach Brüssel geschickt, 24 Parteien bewerben sich in NRW um Wählerstimmen. Neben den etablierten Parteien, wie CDU, SPD, FDP, GRÜNE und die Linke bewerben sich eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Parteien wie die NeoNazis oder christliche Parteien. Sperrklauseln, die in Deutschland fest verankert sind, wie die 5% Hürde des Bundestages, gelten für das Europaparlament ausdrücklich nicht – hier zählt am Ende jede Stimme. So hatte es das Bundesverfassungsgericht am 26. April 2014 unter Vorsitz von Richter Andreas Voßkuhle am Bundesverfassungsgericht gewollt.

Rund 60% der Vorlagen schaffen es durch den Rat, werden dann in nationale Gesetze der einzelnen Staaten umgesetzt. Die restliche 40% werden von Merkel und Co. abgelehnt.

Es sind Europawahlen am 25. Mai und wieder werden böse Spiele auf nationaler Ebene gespielt. So wird vorgegaukelt, der Kommissionspräsident, der derzeitige heißt Manuel Barroso, könne durch den Wähler bestimmt werden. Das ist falsch. Fakt ist, die Mitglieder des Rates, also die 28 Regierungschefs, bestimmen den Kommissionspräsidenten hinter verschlossenen Türen und zwar einstimmig.

v.l.: Martin Schulz und Jean-Claude Juncker  Foto: © Linde Arndt

v.l.: Martin Schulz und Jean-Claude Juncker
Foto: © Linde Arndt

Jean-Claude Juncker (Christlich Soziale Volkspartei), der ehemalige Eurochef und Martin Schulz (SPD) werden als wählbar für das Spitzenamt dargestellt. Sachlich ist auch das indirekt total falsch. Bei der deutschen CDU wird sogar noch einer drauf gesetzt, Bundeskanzlerin Angela Merkel wird indirekt als wählbar plakatiert. Ein Etikettenschwindel? Sicherlich erkennt man an solchen Verhaltensweisen nicht den Einsatz für Europa, den man sich wünschen würde. Europa ist für die Parteien nicht gerade ein Liebesprojekt für das man sich einsetzen sollte. Eben gerade sieht man in der Ukraine Krise wie die europäischen nationalen Spitzenpolitiker versagen und letztendlich den US-Amerikanern das Feld der Diplomatie in Europa überlassen. Mangels Selbstbewusstsein ist ihnen Europa egal. Wenn aber den Parteien Europa egal ist, wie soll sich denn dann der Wähler für Europa erwärmen?

Dann stellt sich doch die Frage, warum sollte der Wähler sich für Europa erwärmen und sein Parlament wählen?

 

Es gibt es, das Europa für das es sich einzusetzen lohnt.

Und aus dieser Behauptung kann man die Wahl am 25. Mai 2014 ableiten. Es ist das Europa, welches seit fast 70 Jahren Frieden hatte. Wenn man die ParlarmentarierInnen in den Ausschüssen und im Parlament beobachtet, was sie sagen, wie sie handeln und wie sie sich für eine Sache einsetzen, so sind sie sich der Verantwortung für unseren Kontinent bewusst. Sie sind engagiert und hochmotiviert etwas für Europa zu bewegen. Nicht alle, jedoch die überwiegende Mehrheit. Einige wenige sind noch mit Parteireflexen ausgestattet und denken in nationalen Kategorien, sie werden jedoch immer weniger.

Was ist mit den Grenzen? Auf dem Kontinent sehen wir an den Grenzen nur noch Ruinen der alten Grenzstationen und Wechselstuben aus längst vergessenen Zeiten. Womit wir das sind wo Europa hin wollte. Ein gemeinsamer Raum der gleiche Regeln hat, aber seine kulturellen Eigenheiten bewahrt. Die Vielfalt ist Europas Stärke.

Begonnen hat es mit der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion ( WWU ) als konsequente Folge des Europäischen Binnenmarktes. Der Euro wurde eingeführt und die Verrechnung von Warenlieferungen und Dienstleistungen wurden vereinfacht. Kaum einer erinnert sich an die teilweise großen Kurssprünge der internationalen Währungen, die unsere Exporte und Importe manchmal unkalkulierbar machten. Heute haben wir trotz der Unkenrufe nach der Finanzkrise, einen harten Euro der stabil ist. Wobei der Euro in vielen Ländern die Leitwährung ist und den Dollar abgelöst hat. Was die USA nicht gerne sieht, da die Wechselkursgewinne nun in Europa anfallen.

Der Vorteil für die 500 Millionen Europäer? Wir können ohne Probleme, ohne Zölle in jedem Land der EU einkaufen oder verkaufen. Wir haben die Wahl, kein Papierkram mehr.

Nun das hört sich jetzt so an, als wenn alles so wunderbar und fehlerfrei laufen würde. Nein, weiß Gott nicht, es sind noch Fehler zu beseitigen. Die Finanzkrise hat uns Europäer gezeigt, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen können. Ungeheure Anstrengungen der EU führen letztendlich zu einer starken Absicherung des Finanzsektors. Der letzte Schritt läuft noch – die Bankenunion.

Abgeordnete in einer Ausschuss-Sitzung   Foto: © Linde Arndt

Abgeordnete in einer Ausschuss-Sitzung
Foto: © Linde Arndt

Was war passiert? Ein Systemfehler, der sich aus dem Konstrukt der EU ergab, der die EU in den Abgrund hätte reißen können. Aber die EU hatte ja die EZB, die sich des Fehlers annahm und nachjustierte. Allerdings kann man heute sagen, hätten wir die EU und keine EZB gehabt, hätten wir in Europa eine Wirtschaftskrise erlebt, die einen weitaus größeren Schaden angerichtet hätte als der „schwarze Freitag“ von 1929. Die 500 Millionen Europäer solidarisierten sich und wehrten die Finanzkrise aus den USA erfolgreich ab.

Die Wirtschafts- und Währungsunion brachte aber noch andere Freiheiten, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die bis heute zu immer mal wieder größeren Aufregungen führte, besonders und gerade nach der Osterweiterung der EU 2004 und 2007. Es wurde die Ausnahmeregelung „2-3-2-Formel“ eingeführt. Deutschland nahm denn auch mit Österreich das Recht in Anspruch, die aus dem Osten kommenden Arbeitnehmer 7 Jahre von ihren Arbeitsmärkten fern zu halten. Trotz allem hatte auch Deutschland und Österreich der Osterweiterung zugestimmt. Ein einfaches NEIN der beiden vorgenannten Länder hätte die Osterweiterung unmöglich gemacht.

Am 31.12.13 liefen alle Fristen ab, so dass Bulgarien und Rumänien jetzt auch die volle Freizügigkeit genießen. Beide Länder sind jedoch die ärmsten Länder in der EU. Wie vorauszusehen war, haben wir nunmehr das Problem der Freizügigkeit in Deutschland und Österreich obwohl nicht mehr Arbeitnehmer aus dem Osten in die Länder kamen. Aber auch hier wurden handwerkliche Fehler sichtbar. Unverständlich, zumal alle Regierungschefs ihre Fachbeamten zu den jeweiligen Sitzungen nach Brüssel mitbringen, denn es soll ja entschieden werden.

 

  • Kindergeld

Das Prinzip, wenn Leistungen eines Staates vorhanden sind, gelten die auch für die in diesem Staat vorhanden EU Ausländer, also für alle EU Bürger. Das gebietet die gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion, die auch die Deutschen wollten. Konkret: Wenn ein EU Bürger in Deutschland ist hat er auch ein Recht auf Kindergeld. Das Kindergeld bezieht sich nach dem Gesetz nur auf die Kinder, es ist egal wo sich ein Kind befindet. Beispiel, EU Eltern arbeiten als Spargelstecher in Deutschland, die Kinder sind bei der Oma in irgendeinem EU Land. Somit gibt es Kindergeld solange hier gearbeitet wird. Aber es gibt das Kindergeld auch, wenn die Eltern in Deutschland nicht arbeiten oder weiter gehend, es in dem anderen EU Land kein Kindergeld gibt. Ungerecht? Nein, wenn sich unsere Regierung was dabei gedacht hat, denke ich nicht. Nur unsere nationale Regierung äußert sich ja nicht, abgesehen davon macht sie ja keine Fehler. Eine Besonderheit von Fehlleistungen der 28 EU Nationen stellt die Problematik der Sinti und Roma dar. Immer wieder werden hier die bestehenden Problem der EU Brüssel angelastet um von dem eigenen Versagen abzulenken. Einmal sind die Sinti und Roma mehr oder weniger Asylanten und auf der anderen Seite kommen sie aus einem der 28 EU-Staaten. Welchen Status die Sinti und Roma bekommen ist manchmal verwunderlich. Letztendlich ist dieses Problem ein reines europäisches Problem, denn die Gebiete wo die Sinti und Roma herkommen befinden sich alle in Europa. Lösungen wurden in Brüssel erarbeitet, nur sie müssen auch von den Regierungschefs umgesetzt werden.

 

  • Aufenthaltsrecht

Es gehört zur Freizügigkeit der EU, ArbeitnehmerInnen können überall in der EU einen Arbeitsplatz suchen und auch annehmen. Im Gewerbebereich hat jeder EU Bürger Niederlassungfreiheit. Das hört sich gut an, in der Praxis waren jedoch ein paar Fehler sichbar geworden.

Wenn aus einem anderen EU Land ein Arbeitnehmer in einem anderen EU Land eine Stelle sucht und nicht findet, haben alle EU Staaten ein Problem. Irgendwann sind evtl. die finanziellen Reserven aufgebraucht und dieser Arbeitnehmer versucht über die Sozialsysteme seinen Lebensunterhalt zu sichern. Hat er eine gewissen Zeit in dem Land gearbeitet und in die Sozialsysteme eingezahlt, so wird er auch einen Beitrag zu seinem Lebensunterhalt aus den Sozialkassen bekommen. Ist das aber nicht der Fall steht er ohne auf der Straße. Der Gaststaat tut so als wenn er nicht da ist.

In der Regel passiert jetzt folgendes – der Arbeitssuchende wird versuchen sich am Arbeitsmarkt als Tagelöhner mit ganz niedrigen Hungerlöhnen zu verdingen um die Zeit zu überbrücken. Das geht eine kurze Zeit gut, dann wird er entweder obdachlos oder er rutscht ab in die Beschaffungskriminalität. Wo ist jetzt das Problem? Nun, er ist mittellos und ist nicht in der Lage die Heimfahrt zu finanzieren. Die Jobcenter oder Sozialämter können diesen Leuten keine Fahrkarte geben, weil die gesetzliche Grundlage fehlt. Bei den afrikanischen Flüchtlingen ist es da einfacher, die werden in einen Flieger gebracht und auf Staatskosten mit Begleitung nach Hause gebracht.

 

Beide Problemfelder sind Konstruktionsfehler der nationalen Staaten. Die Lösung wäre Brüssel. Denn Brüssel könnte zentral die in den 28 Einzelstaaten aufgetretenen Probleme vereinheitlichen und von dort auch die Umsetzung betreiben. So bekämen die Eltern ihr Kindergeld und die Arbeitnehmer ohne Arbeitsstelle würden wieder in ihre Heimatländer verbracht. Nur, das wollten die 28 EU Staaten nicht, sie wollten die Entscheidung in ihrem Machtbereich belassen.

 

Noch ein Wort zum Vorwurf über die „Regulierungswut“ der Brüsseler Administration. Die EU hat 28 Staaten und jeder dieser Staaten hat „Anspruch“ auf einen Kommissar in der Kommission. Selbstverständlich bekommt der Kommissar in der Kommission ein Büro mit Personal und ein Aufgabengebiet. Und das schafft Verordnungen und Regeln ohne Ende. Nur die Kommissare werden vom Rat, also wieder den Regierungschefs, eingesetzt.

 

Im Grund stehen die Parlamentarier des europäischen Parlaments immer außen vor und dienen der Kommission und dem Rat als Ideengeber und Problemlöser. Eine starke Position hat in diesem Spiel der Parlarmentspräsident, z.Zt. der deutsche Martin Schulz (SPD), sein Vorgänger war der Pole Jerzy Buzek (PO), beides Präsidenten des Ausgleichs, die sich nie gegen den Rat stellen würden. Beide wirken aber motivierend auf die Mitglieder des Parlaments ein. Und so kann man den Parlamentariern der EU eine gute handwerklich politische Arbeit attestieren.

Sie sind es, die Europa nach vorne bringen, die Europa leben, mit ihnen macht Europa Sinn. Wenn man einmal erlebt hat wie 4 – 5 Personen aus unterschiedlichen Staaten in den Ausschüssen über eine Sache diskutiert haben und letztendlich zu einem positiven Ergebnis kamen, geht man mit einem gewissen Stolz auf Europa aus dem Ausschusssaal.

Und deshalb sollte es für jeden überzeugend sein die 96 deutschen Abgeordnete für das europäische Parlament am 25. Mai 2014 zu wählen. Europa ist nirgendwo ein Problem, Europa ist die Lösung.

Schlussendlich muss man noch anmerken, viele Rechtspopulisten wollen ihr nationales Süppchen wieder kochen, aber auch unser westlicher Verbündete, die USA, steht der EU misstrauisch gegenüber. Denken ist Gott sei Dank noch nicht verboten. Wenn man etwas negatives über Brüssel erzählt sollte man immer an den römischen Staatsmann Cicero denken, der mit seinem Ausspruch „cui bono“ eine Verteidigungsrede verstärkte. Cui bono, wem nützt dieser vorgebrachte Sachverhalt? Europa braucht jedoch nicht nur Wähler, Europa braucht Menschen die sich für die europäischen Werte einsetzen. Der Jugendaustausch, der Studentenaustausch, die Städtepartnerschaften oder auch der Kulturaustausch, dies alles ist möglich um zusammen zu rücken, voneinander zu lernen oder aber nur mitzumachen.

 

Es ist unser und Ihr Europa, fühlen Sie sich angesprochen!

Jürgen Gerhardt für EN-Mosaik aus Brüssel.